Die Landung der Alliierten am Omaha Beach in der Normandie am 6. Juni 1944 © Robert F. Sargent |
Der Eingriff sollte minimalinvasiv mittels einer sogenannten Laparoskopie – also Bauchspiegelung – stattfinden. Dabei wird der Bauch mit Helium aufgepumpt, um einen Hohlraum zu schaffen. Der Chirurg nimmt dann außen kleine Schnitte vor, führt das schlauchartige Laparoskop am unteren Bauch ein und operiert mittels kleiner Zangenenden, die er von außen mit pistolenartigen Griffen kontrollieren kann. Bei dem Vorgang sollten die Bruchpforten der Leisten mit Kunststoffnetzen stabilisiert und diese mit Titanclips am Gewebe befestigt werden. Soweit die Theorie.
Die Praxis sah jedoch anders aus. Die Schwester im Aufwachraum erzählte mir, dass ich während der Operation unter der Vollnarkose gesprochen hätte. Auf meine schlaftrunkene Frage, was ich gesagt hätte, erklärte sie: „Sie sprachen von einem Strand. Von Omaha Beach”. Zufälligerweise war ich zwei Monate vor der Operation in die Normandie gereist und hatte mir Omaha Beach angesehen, jenen Strand, an dem tausende alliierte Soldaten durch das gnadenlose Maschinengewehrfeuer der Deutschen starben. Normalerweise erinnern sich Menschen an nichts, wenn sie unter Vollnarkose operiert werden. Sie empfinden eine Bewusstlosigkeit, die einer todesähnlichen Schwärze gleicht.
Doch ich erinnere mich an eine Art „Traum”. In diesem Traum stehe ich am D-Day mit anderen amerikanischen Soldaten in einem Landungsboot. Ich warte darauf, in das tödliche Gewehrfeuer der deutschen Wehrmacht am Omaha Beach zu stolpern. Das Tor des Landungsbootes öffnet sich. Hunderte, tausende Schüsse peitschen auf uns ein. Schreie. Blut spritzt. Gehirnmasse landet auf meiner Uniform. Meine Kameraden um mich herum sterben. Ich wate durch das kalte Wasser. Ich halte zitternd das Gewehr über meinem Kopf. Dann werde auch ich von einer Kugel getroffen. Mein Bein! Der Schmerz raubt mir den Verstand. Ich knicke ein. Ich falle ins blutige Wasser. Und wache auf.
Mein erster Gedanke war: „Ich habe überlebt!” Nachdem ich mich im Krankenzimmer nach zwei Stunden Erholungsschlaf wachblinzelte, forderte mich eine Schwester auf, aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Also stand ich auf und versuchte zu gehen. Zu meiner Überraschung knickte ich ein. Ich landete unsanft auf dem Boden. Ich wollte mich wieder aufrichten. Doch ich knickte wieder ein. Jetzt erkannte ich zu meiner großen Beunruhigung, dass mein linkes Bein völlig kraftlos und taub war. Dennoch spürte ich peitschenhiebartige Schmerzen, so als ob jemand mit voller Wucht glühend heiße Metalldrähte immer wieder im Sekundentakt über mein Knie schlug. Eiligst herbeigerufene Experten diagnostizierten eine Beschädigung des Nervus Femoralis, jenes Nervs, der die Impulse an die Muskeln des Beins weiterleitet und mit Kraft versorgt. Meine Befürchtung war, dass der Chirurg die Titanclips, die normalerweise die Kunststoffnetze um die Bruchpforte des Leistenbruchs befestigen, dort fixiert hatte, wo sich der Nervus Femoralis befindet. In anderen Worten, der Chirurg hatte durch seine Unfähigkeit den Nerv abgeklemmt. Die Folge: totale Lähmung des linken Beins. Ohne Krücken konnte ich nicht mehr gehen. Die Folge waren häufige Stürze und Verstauchungen.
Peng! Ich war getroffen worden. Es hatte mich erwischt. Der Schuss aus dem Paralleluniversum an Omaha Beach traf mich anscheinend in der Wirklichkeit. Ich war unfreiwillig zum letzten Veteran des D-Day geworden. Als die Fußball-WM eröffnet wurde, sollte ich noch drei Wochen Krankenhausaufenthalt vor mir haben – und mehrere Monate Physiotherapie.
Ein herbeizitierter Neurologe stach spitze Nadeln in mein Bein, um zu testen, wo die Taubheit anfing und wo sie endete. Sie fing am unteren Bauch an und endete im kleinen Zeh. Man hätte das Bein absägen und amputieren können, ohne, dass ich es bemerkt hätte. Die Schmerzen im Knie wurden mit einem Epilepsie-Medikament behandelt, das mich durch Bewusstseinsausfälle beinahe ins Jenseits beförderte. Eine Odyssee durch diverse Praxen arroganter Ärzte trieb mich zur Verzweiflung. Schnell wurde mir klar, dass ich handeln musste. Ich musste Informationen sammeln, wer für diesen Kunstfehler verantwortlich war. Ich forderte den Operationsbericht an, aus dem jedoch – natürlich – keine Anomalie hervorging. Der Operationsvorgang war von dem Chirurgen angeblich fehlerfrei durchgeführt worden. „Eine schicksalhafte Begebenheit” hieß es. Und das, obwohl ich vorher noch wunderbar laufen konnte. Als mich die Schmerzen und die ausbleibende Verbesserung meines Gesundheitszustands an den Rand des Wahnsinns trieben, beschloss ich, einen Anwalt zu nehmen. Ich musste mich wehren.
Zwei Jahre später ging der Fall vor Gericht – auf dem Höhepunkt einer frustrierenden Schlammschlacht zwischen dem Krankenhaus, mir und meinem Anwalt. Vor Gericht erschien nicht der eigentliche Gutachter, sondern seine Stellvertreterin. Man teilte uns mit, dass der Gutachter, der selbst Chirurg war, während einer von ihm durchgeführten Operation plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben sei. Der tote Gutachter sei jedoch der Auffassung gewesen, dass in meinem Fall kein Kunstfehler vorliege. Warum denn der Chirurg, der mir dieses ganze Ungemach eingebrockt hatte, nicht vorgeladen und im Gerichtssaal anwesend sei, wollte ich wissen. Ich wollte dem Typen in die Augen sehen. Ich wollte ihm zeigen, was er angerichtet hatte. Dass er mir Schmerzen, die bis heute andauern und ein bis heute nur eingeschränkt funktionierendes Bein beschert hatte. Die Antwort war, dass der Chirurg sehr schnell durch eine besonders aggressive Form von Nierenkrebs dahingerafft worden sei. Beide Männer starben zeitversetzt um ein Jahr jeweils um dieselbe Zeit.
Peng! Peng! Jetzt waren zwei Männer tödlich getroffen worden. Das Schicksal – oder was auch immer – hatte durchgeladen und zweimal auf diese beiden Burschen geschossen. Ich hingegen war „nur” schwer verwundet. Da erschien er wieder vor meinen geistigen Augen: der Strand, Omaha Beach, an jenem grausigen D-Day.
In diesem Moment durchfluteten mich Wut, Trauer – und blanke Angst. Weder dem Gutachter, der nicht zu meinen Gunsten urteilte, noch dem Chirurgen, der den fatalen Kunstfehler begangen hatte, wünschte ich den Tod. Ich war manchmal sehr wütend auf sie gewesen, vielleicht sogar gelegentlich hasserfüllt. Jeder Mensch, dem dieses Grauen wiederfährt, hätte ähnlich empfunden. Aber ich wünschte diesen Ärzten nicht den Tod. Genauso muss Stephen King empfunden haben, als er vom Tod des Unfallfahrers erfuhr. Die Frage, die mich – und Stephen King sicher auch – beschäftigt, ist, ob es Kräfte der menschlichen Psyche gibt, von denen wir nicht wissen, wie sie funktionieren und die sich irgendwie unbewusst entladen. Stephen King hat häufig darüber geschrieben in seinen Romanen Carrie, Shining, Feuerkind oder Dead Zone.
Meine Verzweiflung und die Verzweiflung Stephen Kings haben vielleicht Dinge in Gang gesetzt, die ich und King nicht unter Kontrolle hatten. Das deckt sich mit den Forschungsergebnissen der modernen Psychologie, die festgestellt hat, dass anomalistische Phänomene spontan und abseits der wissenschaftlichen Reproduzierbarkeit auftreten. Psychologen bezeichnen das als sogenannte „Externalisierung” von psychischem Stress. Seit meinen Erlebnissen frage ich mich daher: Wer bin ich, der durch den Vorfall vom 6.6.2006 mit dem Tod von zwei Medizinern verbunden ist? Rächte sich mein Unterbewusstsein in Gestalt einer wilden Externalisierung meiner Verzweiflung an ihnen? Oder ist alles nur Zufall, so wie der Tod des Unfallfahrers an Stephen Kings Geburtstag vielleicht nur Zufall war?
Ich verlor den Prozess. Ich erhielt keinen Cent Schmerzensgeld. Monate später musste ich wegen eines erneuten Leistenbruchs operiert werden. Die Netze, die mir der verstorbene Chirurg implantiert hatte, waren gerissen. All der Ärger war umsonst gewesen. Die Operation wurde in einem anderen Krankenhaus erfolgreich durchgeführt. Dort stellte man fest, dass die Titanclips von dem verstorbenen Chirurgen unfachmännisch befestigt und der Nerv dadurch abgeklemmt worden war. Meine Wut und die Schmerzen blieben jedoch.
Seit diesen Ereignissen habe ich gelegentlich Angst vor mir selbst – so wie auch Stephen King wahrscheinlich die Poltergeister in seinem Unterbewusstsein fürchtet, die er nicht kontrollieren kann. Über das Grauen zu schreiben ist jedoch für ihn – wie für mich – ein gewisser Trost. Es ist ein Kanal, um die Angst vor den unbewussten Dämonen in Schach zu halten. Die Frage ist, wann seine und meine Dämonen sich wieder externalisieren und ausbrechen.
© Daniel Gerritzen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen