Freitag, 5. September 2014

Kurzgeschichte: Der Tod einer Termite

Ein Gefühl der Selbstzufriedenheit durchflutet Nick Yates, als er den Rücken des Ayers Rock nach Stunden des mühseligen Aufstiegs erobert. Am liebsten würde er eine Flagge mit dem Logo seiner Firma in den roten Felsen rammen. 
Was für ein netter Standort für eine neue Software-Schmiede!
Eine blutrote Sonne haucht ihre letzte Wärme über die Wüste. Ein verglühendes Stück Kohle. Yates’ Füße und Kniegelenke schmerzen wie nach einem Marathonlauf. Er seufzt. Vergessen sind die abstürzenden Börsenkurse, der beginnende Krieg im Nahen Osten, die Milliardenverluste durch die Wirtschaftkrise, seine Eheschlacht, seine Diabetes.

Ayers Rock, Australien © Public Domain
Yates nimmt den Buschhut ab, wischt sich mit dem linken Ärmel den Schweiß von der Stirn und lässt sich auf den staubigen Felsen nieder. Er verdrängt die Erinnerung an eine alte Frau hinter der Theke eines Ladens in Alice Springs, die ihn vor ein paar Stunden eindringlich davor gewarnt hat, dass die Besteigung des heiligen Berges der Aborigines Unglück bringen könnte. 
Stattdessen nimmt er einige kräftige Schlucke aus der Feldflasche, rülpst laut und genießt das Farbenspiel des verlöschenden Tageslichts.
Als er seine Blicke über den Monolithen schweifen lässt, bemerkt Yates den nasalen Gesang, den der trockene Wind des Outbacks zu ihm hinüberträgt. Er horcht erstaunt auf.
Ich bin nicht allein? Sind wohl noch andere Touristen unterwegs hier oben.
Etwa hundert Meter von ihm entfernt wiegt sich eine dunkle Silhouette im Rhythmus eines undefinierbaren Singsangs. Yates wird neugierig. Er erhebt sich und nähert sich dem Fremden. Er erkennt einen hageren, nackten Körper, der nur mit einem Lendenschurz bedeckt ist, aschgraues, drahtiges Haar, buschige Augenbrauen, eine fliehende Stirn, breite Nasenflügel, ein von Wind und Wetter zerfurchtes, weise anmutendes Gesicht.
Der erste Aboriginal, dem ich in Australien begegne.
Er pfeift schrill und ruft: »Hi!«
Als keine Reaktion erfolgt, wird Yates ungeduldig. »Hey, du! Was machst du da?«
Das Echo bricht sich in den Falten und Verwerfungen des Ayers Rock. Draußen in der Wüste antwortet ein Dingo mit einem markerschütternden Heulen.
Der Eingeborene hält inne und öffnet die Augen. Er stochert mit einem Ast in der Glut von verbranntem Holz. Das fahle Licht glimmt in seinen Augen. Ab und an knackt es und eine Flamme züngelt hervor. Yates beugt sich zu ihm herunter.
Grillen zirpen ihr unheimliches Dämmerungskonzert.
Einige Sekunden vergehen.
Ein rauhes Brummen. »Ich bete.«
Der Dialekt lässt Yates darauf schließen, dass der Mann einmal längere Zeit in einer größeren Stadt, wahrscheinlich Sydney oder Melbourne, zugebracht hat.
Yates erlaubt sich, neben ihn zu setzen. »Was soll der Bullshit? Hast du deinen Job verloren?«
Er kramt einen Joint aus seiner Hemdtasche und entzündet ihn mit einem silbernen Zippo. Wieder entsteht eine längere Pause.
»Ich bete für die Termite, die ich vorhin auf dem Weg hierher getötet habe.«
Der Eingeborene schließt die Augen und wiegt sich stumm.
Absurd! Der Kerl muss verrückt sein.
Yates inhaliert tief und bläst den Rauch mehr oder weniger absichtlich in das Gesicht des Aboriginal. In Yates’ Kopf spukt plötzlich eine Melodie von The Doors.
Termite © Public Domain
This is the end...
Er fühlt sich an seine Collegezeit erinnert, als die Joints herumgereicht wurden und Sex mit jungen Dingern am College noch unverkrampft war. »Warum betest du für ein Insekt? Und was ist das für ein Lied, das du singst?«
Wahrscheinlich hast du nur zu tief in die Flasche gesehen, so wie all deine Landsleute, Kumpel.
»Es ist das Lied des Todes. Ich hätte den Weg der Termite nicht kreuzen dürfen. Als die Termite starb, hatte ich eine Vision. Meine Zeit ist gekommen. Die Traumzeit sprach zu mir...« 
Der Aboriginal schweigt.
»Was für eine Vision?« Der Joint tut seine Wirkung. Yates schüttelt kichernd den Kopf und nimmt einen weiteren Schluck aus der Feldflasche. Auch er würde bald eine Vision haben, denn das Kraut findet er ganz ausgezeichnet.
This is the end...
»Sprach Johnny Walker zu dir?«
Der Alte bleibt freundlich. Er sagt: »Unzählige Male stieg ich Uluru, unseren heiligen Berg hinauf. Doch niemals zuvor begegnete ich hier einer Termite. Als ich beim Aufstieg den Weg der Termite kreuzte, trat ich sie tot – es war nicht meine Absicht.«
Der Aboriginal hält inne. Jetzt blickt er Yates in die Augen. Sein Blick verfinstert sich. Der reichste Mensch der Erde zuckt zusammen. 
Der Alte sagt: »Vierzigtausend Jahre bevölkerten wir Aborigines den Boden Australiens. Unzählige Male sind Eure Schiffe an unserem Kontinent vorübergesegelt. Aber schließlich habt Ihr uns entdeckt. Als Eure Schiffe vor dreihundert Jahren unsere Ufer erreichten, habt Ihr uns und unsere Kultur getötet. Der Kontakt zu Eurer Zivilisation raubte uns den Sinn unserer Existenz. Ihr gabt uns den Suff, ihr stahlt unsere Träume. So wie ich irgendwann einmal dieser Termite begegnen würde, mussten auch die britischen Invasoren eines Tages die Küsten Australiens sichten. Es war nur eine Frage der Zeit. Als die Termite starb, sah ich etwas. Etwas Schreckliches...«
Er macht mir Angst! Scheiße! Der alte Trottel macht mir wirklich Angst!
»Was sahst du? Rede schon!«, mault Yates.
»Ich sah, wie auch Eure Kultur, Eure Zivilisation starb. Du hast recht. Du hast nicht mehr viel Zeit. Ihr alle habt nicht mehr viel Zeit. Ihr, die uns Aborigines oder die Indianer Nordamerikas ausgerottet habt, werdet bald ebenso Eure Träume und den Sinn Eurer Existenz verlieren.«
Nick Yates war jetzt tief beunruhigt über die Worte des Eingeborenen – er schrieb diese Fassungslosigkeit keineswegs der Wirkung des Joints zu. »Warum... warum soll unsere Zivilisation sterben? Wird es einen Weltkrieg geben?«
Verdammt! Warum frage ich ihn das? Warum habe ich plötzlich nur solche Angst vor ihm?
»Mit einem Weltkrieg würdet ihr noch glimpflich davonkommen.« 
Er lächelt nicht. „Schau – dort oben!«. Der Aboriginal deutet zum Himmel hinauf. Inzwischen ist die Nacht völlig hereingebrochen und Abertausende Sterne funkeln mit hypnotisierendem Glanz auf die Wüste hinab.
»Dort draußen gibt es so viele Welten wie Sandkörner auf der Erde und Geschöpfe, die unendlich weiser sind als Ihr. Eure Zivilisation wird sterben. Die Überlegenheit dieser Kreaturen jenseits der Erde wird Eure Träume stehlen – so wie Ihr uns unsere Visionen von einer friedlichen Zukunft geraubt habt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mit Euch Kontakt aufnehmen. Und wenn Ihr nicht nach ihnen sucht, werden sie Euch entdecken. Es ist jetzt Zeit für mich zu gehen, Zeit, diese Welt zu verlassen.«
Er brummt wieder diese merkwürdig unharmonische Melodie, das Todeslied, vor sich hin. Yates schluckt erschüttert. Er erschauert und drückt den Joint auf dem Fels aus. 
Yates übermannen die Gefühle. Er kämpft mit den Tränen.
»Vergib mir meine Arroganz.« 
Ab und an wagt der reichste Mann der Erde einen verstohlenen Blick zu den Sternen hinauf. Als in der Ferne das Knattern des Hubschraubers erklingt, holt er mit zitternden Fingern sein Mobiltelefon aus dem Rucksack hervor und bittet den Piloten um eine weitere Stunde. 
Denn eine Angst von ungekannter Stärke packt Nick Yates. Er beginnt zu beten und wiegt sich im Rhythmus des Todesliedes. 
Yates betet um Vergebung – für den Tod einer Termite.

© Daniel Gerritzen

Mittwoch, 3. September 2014

Die dunkle Nische

Ich sitze auf der Terrasse und blicke in den Sternenhimmel. Der Wald und die Hügel um das Haus blocken die ferne Lichtkuppel der Innenstadt ab. Es ist daher stockfinster. Die Tür zum Wohnzimmer habe ich zugezogen, um zu verhindern, dass Winkelspinnen ins Haus kommen. Bevor ich jeden Abend zu Bett gehe, prüfe ich meine Bettwäsche, um sicherzugehen, dass sich dort keine Winkelspinne versteckt und nicht nachts über mein Kopfkissen krabbelt. Winkelspinnen sind zwar nützlich und ungefährlich, aber meines Erachtens genauso hässlich wie ihre größeren achtbeinigen Vettern, die Wander- oder Vogelspinnen.
Winkelspinne © Public Domain
Ich gebe zu, dass ich, wie Stephen King, auch unter starker Spinnenangst leide. Je größer die Spinne, umso heftiger ist mein Ekel und mein Reflex, das Tier vom Erdboden zu tilgen.

 Aber es reicht nicht, nur die Bettwäsche nach Spinnen zu durchsuchen. Denn normalerweise verstecken sich die Winkelspinnen sehr gerne in dunklen Nischen. Also prüfe ich nicht nur die Bettwäsche vor dem Schlafengehen, sondern auch alle dunklen Nischen in meinem Schlafzimmer und sogar in der ganzen Wohnung. Das dauert ungefähr eine Viertelstunde. Aber auch wenn ich glaube, dass da keine Spinne ist, kann es passieren, dass ich manchmal auf der Schwelle zum Schlaf ein kaltes Kribbeln auf meinen Wangen oder meiner Stirn spüre. Ich habe keinen Einfluss darauf, was mir während des Schlafs passieren könnte. Spinnen existieren meistens mit uns, ohne, dass wir davon etwas erfahren.

Während ich mit dem Feldstecher in das Sternengewimmel der Milchstraße starre, offenbart sich mir ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen meiner Spinnenangst und der Furcht vor der Dunkelheit, der sogenannten Lygophobie. Meine Erfahrung mit den kleinen Achtbeinern hier in diesem Waldgebiet umfasst die gemeinsame Nachtruhe mit Spinnen in einem dunklen Schlafzimmer. Wenn ich den Feldstecher aus dem Zentrum der Milchstraße wegbewege, stelle ich fest, dass dort draußen viel dunkler Raum ist. Tatsächlich ist der Weltraum abseits der Milchstraße ein schwarzer bodenloser Abgrund.

Blick auf das Zentrum der Milchstraße © Public Domain
Unsere Milchstraße (Grie.: Galaxis) besteht aus 200–400 Milliarden Sonnen. Die nächste Sonne ist Proxima Centauri in 4,3 Lichtjahren Entfernung. Die nächste große Galaxis ist der Andromeda-Nebel M31. Mit über 500 Milliarden Sonnen ist M32 größer als die Milchstraße und ca. 2,5 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Ein Lichtjahr ist die Entfernung, die das Licht innerhalb eines Jahres zurücklegt: ca. 9,46 Billionen Kilometer. Multiplizieren wir 9,46 Billionen mit 2,3 Millionen, bekommen wir eine Ahnung davon, wieviele dunkle Kilometer zwischen den Sternen, geschweige denn Galaxien, liegen können. Dabei ist die Andromeda-Galaxis vergleichsweise nahe. Den Entfernungsrekord hält die Galaxis „IOK-1” mit 12,95 Milliarden Lichtjahren. Das Universum an sich ist etwa 13,7 Milliarden Lichtjahre alt. Das beobachtbare Weltall ist aber aufgrund der ständig schneller werdenden Ausdehnungsgeschwindigkeit etwa 93 Milliarden Lichtjahre groß.

Unser Sonnensystem befindet sich in einem der Außenarme der Milchstraße. Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass wir auf einer winzigen Insel inmitten eines dunklen kosmischen Ozeans existieren. Es ist in etwa so, als ob ein Schiffbrüchiger, der sich an einem Stück Treibholz festhält, nicht weiß, dass er sich über dem 11 Kilometer tiefen Marianengraben befindet. Ja, wir sind in der Tat Schiffbrüchige, aber um uns herum gähnt ein Abgrund von 93 Milliarden Lichtjahren.

Es ist also menschlich, die lauernde Dunkelheit des Kosmos zu verdrängen.

 Zu den wenigen Menschen, die diese Dunkelheit des Universums schätzen, zählen Astronomen und Romantiker, wie ich, die nachts auf der Terrasse sitzen und vom Sternegucken Nackenschmerzen bekommen. Die eindrücklichste Vorstellung bekommen jedoch Astronauten bei einem Weltraumspaziergang. Es gibt kein „oben”, kein „unten”, kein „rechts”, kein „links”. Die Erde kann über oder unter einem Astronauten sein. Wenn der Astronaut in der Dunkelheit des Weltraums schwebt, darf er nicht daran denken, dass „unter” ihm nichts ist. Er befindet sich ohnehin ständig im freien Fall. Er fällt ins Bodenlose. Sehr eindrucksvoll zeigte das der Thriller Gravity mit Sandra Bullock aus dem Jahr 2013. Man benötigt als Astronaut eine starke Psyche, um die Ungeheuerlichkeit des dunklen Weltraums zu verarbeiten und nicht verrückt zu werden.



Der normale Bürger auf der Straße interessiert sich jedoch meistens nicht für den Weltraum. Er interessiert sich nicht für die Frage, ob wir allein sind in den Weiten des Alls. Das liegt erstens an der Tatsache, dass das Bedrohliche des Alls abstrakt und fern ist. Die unmittelbaren Erfahrungen des Menschen mit dem Weltraum umfassen lediglich Phänomene wie Meteore, Meteoriteneinschläge, Sonnenauf- und untergänge, Mondzyklen. Größere Katastrophen, wie etwa eine Supernova-Explosion des roten Riesensterns Beteigeuze in der unmittelbaren kosmischen Umgebung, ein Asteroiden- oder Kometeneinschlag oder ein Besuch von Außerirdischen, scheinen vorerst nicht in Sicht. Die Betonung liegt auf „scheinen”. Warum spreche ich von Bedrohung? Weil sich der Durchschnittsbürger meistens erst dann für Dinge außerhalb seines Interessenspektrums interessiert, wenn sie sein Leben bedrohen. Wenn er also Angst vor ihnen hat. Wenn das Universum uns in Form einer Invasion durch Außerirdische bedrohen würde, wäre das Interesse plötzlich sehr lebhaft.

Zweitens ängstigt die Dunkelheit des Universums viele Menschen. Deswegen verdrängen sie Fragen, wie: „Sind wir allein im Universum?” oder „Was wäre, wenn uns Außerirdische besuchen?” Die Verdrängung der Frage nach außerirdischem Leben ist ein Schutzmechanismus der menschlichen Psyche, um das maximale Fremde intellektuell zu bewältigen und von sich fernzuhalten. So wie ich die Spinnen – das unmittelbare maximale Fremde für mich – in der Finsternis des Schlafzimmers von mir fernhalten will. Das Meer der kosmischen Dunkelheit, durch das die Erde zusammen mit den anderen Planeten des Sonnensystems die Milchstraße umkreist, ist gleichbedeutend mit dem Unbekannten. Wenn also Leute sagen: „Es interessiert mich nicht, ob da draußen noch andere Lebewesen sind!”, dann ist das eine glatte Lüge.

Dieses vermeintliche Desinteresse ist eigentlich eine Verdrängung der Angst, dass da draußen etwas lauern könnte, wie Spinnen in dunklen Nischen, die mit uns existieren, ohne, dass wir davon etwas erfahren.

 Zum Beispiel Außerirdische in Gestalt von menschengroßen Vogelspinnen, die uns vielleicht technologisch und intellektuell weit überlegen sind. Denn die dunkelste Nische ist für uns Menschen das Universum über unseren Köpfen mit all seinen Geheimnissen – und potentiellen interstellaren Gefahren.
 

In der Ferne bellt ein Hund. Grillen zirpen ihre unverständlichen Gebete. Durch das Sternengewimmel der Milchstraße zieht schnurgerade ein Licht und schlägt dann unerwartet einen Haken. Offensichtlich kann es kein Satellit sein. Merkwürdig, denke ich.


Etwas krabbelt mein Schienbein hoch. Ich erstarre.

© Daniel Gerritzen