Ein
Gefühl der Selbstzufriedenheit durchflutet Nick Yates, als er den Rücken
des Ayers Rock nach Stunden des mühseligen Aufstiegs erobert. Am liebsten würde er eine Flagge mit dem Logo seiner Firma in den roten
Felsen rammen.
Was für ein netter Standort für eine neue Software-Schmiede!
Eine blutrote
Sonne haucht ihre letzte Wärme über die Wüste. Ein verglühendes Stück Kohle. Yates’
Füße und Kniegelenke schmerzen wie nach einem Marathonlauf. Er
seufzt. Vergessen sind die abstürzenden Börsenkurse, der beginnende Krieg im Nahen
Osten, die Milliardenverluste durch die Wirtschaftkrise, seine Eheschlacht,
seine Diabetes.
Ayers Rock, Australien © Public Domain |
Yates nimmt
den Buschhut ab, wischt sich mit dem linken Ärmel den Schweiß von der Stirn
und lässt sich auf den staubigen Felsen nieder. Er verdrängt die Erinnerung an eine alte Frau hinter der Theke eines Ladens in Alice
Springs, die ihn vor ein paar Stunden eindringlich davor gewarnt hat, dass die Besteigung des heiligen Berges der Aborigines Unglück bringen könnte.
Stattdessen nimmt er einige kräftige Schlucke aus der Feldflasche, rülpst laut
und genießt das Farbenspiel des verlöschenden Tageslichts.
Als er
seine Blicke über den Monolithen schweifen lässt, bemerkt Yates den nasalen Gesang,
den der trockene Wind des Outbacks zu ihm hinüberträgt. Er horcht erstaunt auf.
Ich bin nicht allein? Sind wohl noch andere
Touristen unterwegs hier oben.
Etwa hundert
Meter von ihm entfernt wiegt sich eine dunkle Silhouette im Rhythmus
eines undefinierbaren Singsangs. Yates wird neugierig. Er erhebt sich und
nähert sich dem Fremden. Er erkennt einen hageren, nackten Körper, der nur mit
einem Lendenschurz bedeckt ist, aschgraues, drahtiges Haar, buschige
Augenbrauen, eine fliehende Stirn, breite Nasenflügel, ein von Wind und Wetter
zerfurchtes, weise anmutendes Gesicht.
Der erste Aboriginal, dem ich in Australien
begegne.
Er pfeift
schrill und ruft: »Hi!«
Als
keine Reaktion erfolgt, wird Yates ungeduldig. »Hey, du! Was machst du da?«
Das
Echo bricht sich in den Falten und Verwerfungen des Ayers Rock. Draußen in der
Wüste antwortet ein Dingo mit einem markerschütternden Heulen.
Der
Eingeborene hält inne und öffnet die Augen. Er stochert mit einem Ast in der
Glut von verbranntem Holz. Das fahle Licht glimmt in seinen Augen. Ab und an
knackt es und eine Flamme züngelt hervor. Yates beugt sich zu ihm herunter.
Grillen
zirpen ihr unheimliches Dämmerungskonzert.
Einige
Sekunden vergehen.
Ein rauhes
Brummen. »Ich bete.«
Der
Dialekt lässt Yates darauf schließen, dass der Mann einmal längere Zeit in
einer größeren Stadt, wahrscheinlich Sydney oder Melbourne, zugebracht hat.
Yates
erlaubt sich, neben ihn zu setzen. »Was
soll der Bullshit? Hast du deinen Job verloren?«
Er kramt einen Joint aus seiner Hemdtasche
und entzündet ihn mit einem silbernen Zippo. Wieder entsteht eine längere
Pause.
»Ich
bete für die Termite, die ich vorhin auf dem Weg hierher getötet habe.«
Der
Eingeborene schließt die Augen und wiegt sich stumm.
Absurd! Der Kerl muss verrückt sein.
Yates
inhaliert tief und bläst den Rauch mehr oder weniger absichtlich in das Gesicht
des Aboriginal. In Yates’ Kopf spukt plötzlich eine Melodie von The Doors.
Termite © Public Domain |
This is the end...
Er
fühlt sich an seine Collegezeit erinnert, als die Joints herumgereicht
wurden und Sex mit jungen Dingern am College noch unverkrampft war. »Warum betest du für ein
Insekt? Und was ist das für ein Lied, das du
singst?«
Wahrscheinlich hast du nur zu tief in die Flasche
gesehen, so wie all deine Landsleute, Kumpel.
»Es ist
das Lied des Todes. Ich hätte den Weg der Termite nicht kreuzen dürfen. Als die
Termite starb, hatte ich eine Vision. Meine Zeit ist gekommen. Die Traumzeit sprach zu mir...«
Der Aboriginal schweigt.
»Was
für eine Vision?« Der Joint tut seine Wirkung. Yates schüttelt kichernd den
Kopf und nimmt einen weiteren Schluck aus der Feldflasche. Auch er würde bald eine Vision haben, denn das Kraut findet er ganz ausgezeichnet.
This is the end...
»Sprach
Johnny Walker zu dir?«
Der
Alte bleibt freundlich. Er sagt: »Unzählige Male stieg ich Uluru, unseren heiligen Berg hinauf. Doch niemals zuvor begegnete
ich hier einer Termite. Als ich beim Aufstieg den Weg der Termite kreuzte, trat
ich sie tot – es war nicht meine Absicht.«
Der
Aboriginal hält inne. Jetzt blickt er Yates in die Augen. Sein Blick
verfinstert sich. Der reichste Mensch der Erde zuckt zusammen.
Der Alte sagt: »Vierzigtausend
Jahre bevölkerten wir Aborigines den Boden Australiens. Unzählige Male sind
Eure Schiffe an unserem Kontinent vorübergesegelt. Aber schließlich habt Ihr
uns entdeckt. Als Eure Schiffe vor dreihundert Jahren unsere Ufer erreichten,
habt Ihr uns und unsere Kultur getötet. Der Kontakt zu Eurer Zivilisation
raubte uns den Sinn unserer Existenz. Ihr gabt uns den Suff, ihr stahlt unsere
Träume. So wie ich irgendwann einmal dieser Termite begegnen würde, mussten
auch die britischen Invasoren eines Tages die Küsten Australiens sichten. Es
war nur eine Frage der Zeit. Als die Termite starb, sah ich etwas. Etwas Schreckliches...«
Er macht mir Angst! Scheiße! Der alte Trottel
macht mir wirklich Angst!
»Was
sahst du? Rede schon!«, mault Yates.
»Ich
sah, wie auch Eure Kultur, Eure Zivilisation starb. Du hast recht. Du hast
nicht mehr viel Zeit. Ihr alle habt
nicht mehr viel Zeit. Ihr, die uns Aborigines oder die Indianer Nordamerikas
ausgerottet habt, werdet bald ebenso Eure Träume und den Sinn Eurer Existenz
verlieren.«
Nick
Yates war jetzt tief beunruhigt über die Worte des Eingeborenen – er schrieb
diese Fassungslosigkeit keineswegs der Wirkung des Joints zu. »Warum... warum
soll unsere Zivilisation sterben? Wird es einen Weltkrieg geben?«
Verdammt! Warum frage ich ihn das? Warum habe ich
plötzlich nur solche Angst vor ihm?
»Mit
einem Weltkrieg würdet ihr noch glimpflich davonkommen.«
Er lächelt nicht. „Schau – dort oben!«.
Der Aboriginal deutet zum Himmel hinauf. Inzwischen ist die Nacht völlig
hereingebrochen und Abertausende Sterne funkeln mit hypnotisierendem Glanz auf
die Wüste hinab.
»Dort
draußen gibt es so viele Welten wie Sandkörner auf der Erde und Geschöpfe, die
unendlich weiser sind als Ihr. Eure Zivilisation wird sterben. Die
Überlegenheit dieser Kreaturen jenseits der Erde wird Eure Träume stehlen – so
wie Ihr uns unsere Visionen von einer friedlichen Zukunft geraubt habt. Es ist
nur eine Frage der Zeit, bis sie mit Euch Kontakt aufnehmen. Und wenn Ihr nicht
nach ihnen sucht, werden sie Euch entdecken. Es ist jetzt Zeit für mich zu
gehen, Zeit, diese Welt zu verlassen.«
Er brummt wieder diese merkwürdig unharmonische Melodie, das Todeslied, vor sich hin. Yates
schluckt erschüttert. Er erschauert und drückt den Joint auf dem Fels aus.
Yates übermannen die Gefühle. Er kämpft mit den Tränen.
»Vergib
mir meine Arroganz.«
Ab und
an wagt der reichste Mann der Erde einen verstohlenen Blick zu den Sternen
hinauf. Als in der Ferne das Knattern des Hubschraubers erklingt, holt er mit
zitternden Fingern sein Mobiltelefon aus dem Rucksack hervor und bittet den Piloten um eine weitere
Stunde.
Denn eine Angst von ungekannter Stärke packt Nick Yates. Er beginnt zu beten und wiegt sich im Rhythmus des Todesliedes.
Yates
betet um Vergebung – für den Tod einer Termite.
© Daniel Gerritzen