Dienstag, 5. März 2019

Die Angst vor dem Vergessensein

Ein Großteil der Menschen gerät nach ihrem Tod in Vergessenheit. Manchmal bewahrt sie nur der Zufall davor. Neulich berichtete mir ein Freund von seinem Urlaub in Portugal an der Algarve und wie steil die Küste dort sei. So steil, dass die Eltern eines jungen Mannes aus Deutschland, der die Klippe hinabstürzte und starb, einen Gedenkstein als Warnung für Touristen anbringen ließen. Im Internet finde man Bilder des Gedenksteins. Der Mann hieße Sven Greeff, am 25. August 1973 in Essen geboren, am 4. Juni 2001 gestorben.

Der Gedenkstein von Sven Greeff am
Cabo Sao Vicente © Nino Munoz, 2010
Sven war ein ehemaliger Schulkamerad, an den ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte. Sven Greeff war 1984, als ich ihn kennenlernte, ein Junge von sportlicher Statur mit blonden Haaren. Seinen wachsamen Augen, die oft über den Rand seiner Brille hinweglugten, entging nur wenig. Etwa 1987 trug er gerne Bluejeans, eine rote Daunenweste, eine Baseballkappe und knöchelhohe, weiße Puma-Sportschuhe. Hätten wir nicht in Deutschland gelebt, so würde ich sagen, er wäre geradewegs aus einem amerikanischen Teenie-Film entsprungen. Wie wir alle, saß Sven jeden Abend pünktlich vor der Flimmerkiste, um „Ein Colt für alle Fälle”, „Trio mit vier Fäusten” oder „Magnum” zu sehen. Er interessierte sich für alles Ungewöhnliche – was sich, wie bei mir, nur selten mit dem Schulunterricht deckte. Seine langsame, überlegte Wortwahl war unterbrochen von einem heftigen Stottern. Je aufgeregter er war, umso stärker wurde das Stottern – und mithin sein Komplex, der sich daraus ergab. Es brachte Sven dazu, sich aus dem aktiven Unterricht auszuklinken und geistig irgendwo im Weltraum während einer Star-Wars-Ballerei anzudocken, was die Lehrer manchmal als Faulheit oder Arroganz auslegten und ihn deswegen zu Unrecht aufs Korn nahmen. Auffallend war das mangelnde Bemühen der Lehrer, Sven als Person zu verstehen. Das hatte Konsequenzen.

Seine Skepsis gegenüber Schulautoritäten gipfelte darin, dass er der Aufsicht führenden Kunstlehrerin während der Pause unabsichtlich einen Schneeball in ein Auge warf. Ich glaube, es brachte ihm eine Klassenkonferenz ein. Während einer Frühstückspause pokerten wir in einem Gebüsch. Natürlich wurden wir vom Aufsicht führenden Sportlehrer erwischt und mussten einen Text schreiben, warum man während der Pause nicht im Gebüsch mit Playboy-Karten pokern soll, auf denen nackte Frauen abgebildet sind. Aber Sven wollte uns mit den nackten Frauen beeindrucken. Als er einmal während des Mathematikunterrichts zur Tafel zitiert wurde, damit er eine Funktionsgleichung vorrechnete, zeichnete er zur großen Verärgerung der Lehrerin
(„Was hat er denn jetzt vor?”) und dem Gelächter der Schulkollegen anstatt eines Graphen ein Zielkreuz. Und irgendwann kam die Polizei in die Schule und sprach mit ihm über die Warnleuchten, die er bei einigen Baustellen abmontiert und Schülern verkauft hatte – offensichtlich, um bei ihnen Eindruck zu machen und endlich den Außenseiterstatus loszuwerden. Wie ich auch, so war Sven damals vom C64-Virus infiziert. Er liebte es, an Samstagen mit seinem Commodore C64 „Uridium 3” oder „Ace of Aces” zu zocken und aus dem Radio Hits auf Kassetten aufzunehmen. Oder mit seinem CB-Funkgerät zu kommunizieren. Aber all das musste er aufgeben, nachdem sein Handel mit Baustellenwarnleuchten aufgeflogen war.

Im Frühjahr 1987 berichtete er mir, dass er zuhause ein CB-Funkgerät übrig hätte, das er mir verkaufen könnte. Der einzige Nachteil: das Display für die Signalstärke sei nicht beleuchtet, weil die Leuchtdiode defekt sei.
Das andere, linke Display funktionierte. Ich kaufte es ihm trotzdem für 25 D-Mark ab. Als ich so abends durch die Kanäle zappte und davon träumte, Außerirdische zu hören, stellte ich schnell fest, dass die hereinkommenden Funksprüche aufgrund der kleinen Antenne und des nicht sehr sensiblen Empfängers sehr unverständlich waren. Ich kam nicht acht Lichtjahre weit, sondern höchtens acht Kilometer. Ich benötigte eine größere Antenne und eine stärkere Sende-Empfangsanlage.

Jodie Foster als Elly Arroway in „Contact“ (1997)
© Warner Bros.
Für eine grundlegende Erkenntnis war das Funkgerät immerhin gut. Sven hatte mir gezeigt, dass, wenn man über eine ausreichend große Antenne und eine sensible Sende-Empfangsanlage verfügte, man theoretisch mit Jedermann auf der Erde kommunizieren konnte.
„S-s-sogar mit Außerird-d-d-dischen!”, sagte Sven und deutete in den Himmel. Vorausgesetzt, E.T. verfügte über Radiowellentechnologie wie die Menschheit. Wenige Wochen, bevor ich das Funkgerät kaufte, hatte ich den Roman „Contact” von Carl Sagan gelesen, der sich mit der Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen (SETI) und ihren Folgen befasst. Die Protagonistin Elly Arroway kämpfte mit einem ähnlichen Problem wie ich. Sie brauchte eine größere Antenne, um mögliche Radiosendungen von einer außerirdischen Zivilisation zu empfangen. Diese hatte sie nach ihrem Studium im Radioobservatorium von Arecibo in Puerto Rico und später im Very Large Array in New Mexico zur Verfügung. Im Roman (und im gleichnamigen Film) schafft es Elly Arroway nach Jahren der Suche den Kontakt mit Außerirdischen herzustellen, obwohl sie eigentlich unbewusst mit ihrem verstorbenen Vater im Jenseits sprechen möchte, den sie seit Kindheitstagen vermisste.


1988 fuhr unsere Stufe nach Mittenwald in die Bayerischen Alpen, um Skifahren zu lernen. Sven, ich und vier weitere Jungs waren in einem Zimmer direkt neben dem Konrektor untergebracht. (Noch heute wache ich schweißgebadet auf, wenn ich daran denke, dass wir Bierdosen kreisen ließen und „der Schleifer”, wie wir ihn nannten, jederzeit hätte hereinplatzen können, um uns zur Sau zu machen.) Mit 14 Jahren konzentrierten sich unsere Gespräche größtenteils auf aktuelle Fernsehserien, Kinofilme und die aufgekommene Welle von Heavy-Metal-Bands wie Iron Maiden oder Def Leppard (und das eine oder andere Mädchen). Als alle anderen schliefen, verriet mir Sven etwas, das ihn sehr beschäftigte. Im Fernsehen liefe eine coole Fernsehserie, die wenige Wochen zuvor in der ARD gestartet sei und „Die Bradbury-Trilogie” hieße („The Bradbury Theater” auf Englisch). Es seien 25-minütige Filme, die auf Geschichten des amerikanischen Autors Ray Bradbury basierten. In der dritten Folge, „Die Menge aus dem Nichts”, die am 19. Januar im Vorabendprogramm der ARD lief, würde etwas Beängstigendes geschehen...

Ray Bradbury © Alan Light, 1975
Mr. Spallner hat einen schweren Autounfall, er überlebt jedoch. Als er im Krankenhaus behandelt wird, erinnert er sich wieder daran, dass sich die Räder seines Wagens noch drehten, als eine Menschenmenge plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und neugierig auf ihn hinabschaute, obwohl... ja, obwohl die Straßen kurz zuvor menschenleer waren – da war sich Mr. Spallner sicher. Wenige Tage später wird Spallner Zeuge, wie ein Taxifahrer mit seinem Wagen verunglückt. Wieder eilen die gleichen Menschen zur Unfallstelle herbei und starren den Verletzten an. Spallner recherchiert und erkennt, nachdem er Unfallfotos vergleicht und immer wieder dieselben Menschen auftauchen, dass sie scheinbar schon immer gelebt haben müssen und eine bestimmte Aufgabe haben. Sven schlussfolgerte: „Sie w-wollen si-si-chergehen, wer st…sterben und w…wer üb-b-b-berleben soll.” So scheinen sie das schon immer gemacht zu haben, glaubt Mr. Spallner. Sie sind das personifizierte Schicksal. Ray Bradbury lässt uns im Unklaren, wer diese Menschenmenge ist. In der Nacht konnte ich nur sehr schlecht schlafen. Die Story und Svens Fähigkeit, eine unheimliche Geschichte widerzugeben, haute mich jedoch aus den Socken. Ich las später alles, was ich von Ray Bradbury in die Finger bekommen konnte.

Jetzt, nach der traurigen Nachricht, bin ich mir sicher, dass es so ähnlich war an jenem 4. Juni 2001, als Sven am Cabo de São Vicente auf die Klippe trat und aus Neugier hinunterschauen wollte, wie die Menschenmenge in der Folge „The Crowd” in der Bradbury-Trilogie. Vielleicht sahen Freunde hilflos zu, wie Sven abstürzte. Vielleicht sahen aber auch nur Möwen zu, die im Moment des Unfalls gleichgültig ihre Kreise über den Küstenfelsen zogen.

Erstkontakt
© Franckh Kosmos 2016
Das CB-Funkgerät habe ich immer noch. Wenn ich es einschalte, dringt ein dumpfes, fernes Rauschen aus dem Lautsprecher. Manchmal durchsticht das atmosphärische Rauschen der Radiowellen ein Brubbern, begleitet von einem fernen, metallischen Kreischen. Die Ionosphäre hält seltsame Monologe. Das Licht des Displays war all die Jahre defekt. Es leuchtet immer noch nicht. Und noch immer habe ich keine größere Antenne, aber inzwischen ein Buch über SETI geschrieben. Als ich den Kanal wechsele, vernehme ich ein rhythmisches Klopfen im Rauschen. Es mutet wie ein geheimer Morsecode an.

Ich nehme das Mikrophon, drücke auf „Senden” und flüstere: „Sven?” Dann, noch einmal, jetzt mutiger: „SVEN?” Ich zögere und komme mir blöd vor, als ich hinzufüge: „Danke für alles!”
Ich warte und lausche. Ohne Svens Funkgerät hätte sich niemals meine Faszination für SETI gefestigt und hätte ich niemals die genialen Geschichten von Ray Bradbury gelesen, die mich ab dem 15. Lebensjahr so sehr prägen würden. Sven war ein liebenswerter, aufgeweckter Bursche, frustriert ob der oftmals ignoranten Lehrerschaft. Die Lehrer werden ihn längst vergessen haben.
Ich bin froh, dass ich Sven nicht vergessen werde. Wie könnte ich das auch, denn zwischen uns schwingt durch die Zeit hinweg immer noch ein magisches, unsichtbares Band. In meiner Erinnerung stirbt er niemals.

Wie gigantisch auch immer die Antenne meines Funkgeräts sein müsste oder wie stark der Sender – dort, wo Sven jetzt vielleicht ist, wird er selbst damit nicht zu erreichen sein. Nur das ferne atmosphärische Kreischen im Hintergrundrauschen antwortet mir. Es klingt wie einsames Möwengeschrei in der schweren Meeresbrandung der Algarve.