Montag, 9. Februar 2015

Die Angst vor dem Ende des Grübelns

25. Januar 1988. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe mir bei Kartoffelchips und Limo im ZDF einen Film mit dem Titel „Die Bombe” an (und versuche, die morgige Mathearbeit zu verdrängen). Michael Degen spielt hier einen Terroristen, der als stellvertretender Sicherheitschef eines Atomkraftwerks an spaltbares radioaktives Material gelangt ist und damit im heimischen Keller eine Atombombe gebaut hat. An einem Sonntagmorgen stellt er die selbstgebastelte Waffe auf dem Hamburger Rathausplatz auf und fordert, dass die illegale Herstellung und geheime Lagerung von Plutonium in „seinem” Atomkraftwerk durch die deutsche Bundesregierung sofort eingestellt wird.
Der Senat und die Sicherheitskräfte müssen sich eingestehen, dass sie hilflos sind gegenüber der raffinierten technischen Vorrichtung der Bombe, die von dem Täter in kurzen Abständen neu eingestellt werden muss, um nicht zu detonieren. Doch er lässt sich nicht von den fingierten Nachrichtenmeldungen beirren, die angeblich belegen, dass die Regierung seine Forderungen erfüllt. Fassungslos muss ich mit ansehen, dass es den Politikern und Sicherheitskräften nicht gelingt, die immer dramatischer werdende Situation zu lösen. Der Countdown läuft. Wird Hamburg dem Erdboden gleichgemacht? Geschieht das Unfassbare? Fest steht für mich beim Ansehen des Films, dass dieser Bombenbauer von Hamburg ein Terrorist ist, denn er stellt eine politische Forderung. 


Die Bombe von Lars Molin, 1982
© Rowohlt Verlag
Der Film des Regisseurs Christian Görlitz basiert auf dem Roman „Die Bombe” des inzwischen verstorbenen schwedischen Autors Lars Molin. In Molins Roman stellt ein ehemaliger Angestellter eines Atomkraftwerks die selbstgebaute Bombe in Stockholm auf. Was im Film nur angerissen wird, erhält im Buch eine viel tiefere Dimension: die Psyche des Täters. Im Buch rächt sich der Mann für eine gescheiterte Beziehung, für Mobbing durch seine Kollegen. So ist seine Tat nur die vermeintliche logische Konsequenz seiner Wut auf diejenigen, die ihn gedemütigt und geschmäht haben. Er ist ein Ausgestoßener. Er sucht sich sein zerstörerisches Ventil in Form der Bombe – je abstrakter die Tötungsform, umso geringer ist der Skrupel, die Waffe einzusetzen. Fest steht für mich nach der Lektüre des Romans, dass der Bombenbauer von Stockholm das Psychogramm eines Amokläufers aufweist, denn er rächt sich an seinen Peinigern. Angesichts der zwei unterschiedlichen Motive im Film und im Roman stellt sich nun jedoch die sehr spannende Frage, wie sich das Psychogramm eines Terroristen von dem eines Amokläufers unterscheidet. 

Der Begriff „Amok” leitet sich von dem malaiischen Wort „mengamuk” ab und bedeutet so viel wie „verrückt werden”. Psychologen vermuten, dass ein Amoklauf das Resultat einer sogenannten „dissoziativen Störung” sein könnte. Das Bewusstsein des Betroffenen spaltet – dissoziiert – sich von den Sinneseindrücken ab. Ein Beispiel: Das Bewusstsein eines Yogis auf dem Nagelbrett ist dissoziiert von seinen Empfindungen, denn sein Geist blendet den Schmerz aus. Aber auch das Bewusstsein eines Amokläufers ist dissoziiert, denn er hat in seiner Wut auf die Personen, die ihn gedemütigt haben, keinen Blick mehr für die tragischen Folgen seines Handelns. Er ist berauscht von der Macht der Waffen und der Angst seiner Opfer. Es entsteht in seinem Geist eine Art weißes Rauschen, das sich erst nach der Tat auflöst, so als ob er plötzlich einen Fernsehsender findet und ein klares Bild sieht. Wenn der Amokläufer das klare Bild – das von ihm angerichtete Blutbad – dann erkennt, stürzt die Realität auf ihn ein und er findet meistens keine andere Lösung, als sich selbst das Leben zu nehmen. Ich schreibe „der Amokläufer”, weil die Täter bis auf ganz wenige Ausnahmen männlichen Geschlechts sind.

Soziologische Studien belegen, dass „Amokläufer” meistens Außenseiter der Gesellschaft sind, die mit unterdrückten Aggressionen und einer verringerten Fähigkeit kämpfen, Konflikte friedlich zu lösen. Es mangelt ihnen meistens an Selbstbewusstsein, das nötig wäre, um sich gegen schwere Demütigungen zur Wehr zu setzen.
Üblicherweise geht im Gehirn des Amokläufers vor seiner Tat eine sehr lange und intensive Phase des Grübelns über die ihm widerfahrenen Demütigungen und Schmähungen voran.
Dieses Grübeln ist eine Form der Zwangsgedanken. Probleme und erfahrene emotionale Verletzungen werden immer wieder hin- und her gewälzt. Der potentielle Amokläufer sieht selbst nach Wochen oder Monaten des Grübelns über seine erlittenen emotionalen Verletzungen keine andere Lösung für das Problem, als den Tod der Personen, die ihm den Schmerz zugefügt haben. Nach dem Grübeln kommt die Phase des Planens. Der Täter kauft Waffen, Sprengstoff, tüftelt vielleicht Pläne aus, so viele Menschen wie möglich in den Tod zu reißen. Er plant einen Kampf gegen die personifizierten Demütigungen, nicht gegen Menschen. Die Menschen materialisieren sich erst in seinem Bewusstsein, wenn sie tot vor ihm liegen. Ein Amoklauf ist daher nie ein spontanes Ereignis – vielmehr plant der Täter sein Massaker äußerst minutiös, so wie Terroristen einen Anschlag.


Der Assassinen-Führer Hassan i-Sabah
© Public Domain
Ursprünglich ist der Amoklauf eine militärische Kriegstechnik. Malaiische Kämpfer versetzten sich vor dem Angriff in einen Drogenrausch und richteten dann durch ihr dissoziiertes Bewusstsein in den feindlichen Linien schreckliche Massaker an. Diese kriegerischen Amokläufer nahmen dabei ihren eigenen Tod in Kauf.
Die Akzeptanz des eigenen Todes durch einen Akt der mörderischen Raserei war auch im Mittelalter unter den Assassinen verbreitet. Die Assassinen waren eine Abspaltung von der islamischen Glaubensgemeinschaft der schiitischen Ismaeliten, die in Persien von der Burg Alamut aus unter der Führerschaft von Hassan i-Sabah (1034–1124 n. Chr.) und später in Syrien unter dem „Alten vom Berge”, Raschid ad-Din Sinan (1133–1192), politische Morde verübten. Dabei konsumierten die Mitglieder der Assassinen vor den Attentaten Drogen wie Haschisch, um ihr Bewusstsein von den Sinneseindrücken loszulösen. (Daher wahrscheinlich der Begriff „Assassine” als Synonym für einen „Meuchelmörder”, abgeleitet von „Hassasin” für „Haschisch-Esser”.) Auch die Assassinen nahmen ihren Tod in Kauf. Die ersten politischen Terroristen waren somit streng genommen Amokläufer, die durch Drogen ihre Angst vor dem Tod unterdrückten.


Amokläufer Seung-Hui Cho vor dem Massaker
am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg,
Virgina, 2007 © NBC News
Der Unterschied zwischen einem Amokläufer und einem Terroristen ist mithin eigentlich nicht existent, wie jüngst der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebo in Paris zeigt. Zwei mit automatischen Waffen ausgerüstete islamistische Terroristen stürmten am
7. Januar 2015 in die Büroräume der Zeitschrift und erschossen 12 Menschen. Die Tat gleicht von ihrem Hergang den Amokläufen wie etwa an der Columbine Highschool in Colorado im Jahre 1999 (13 Tote), am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im Jahre 2002 (15 Tote) oder am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg, Virginia, im Jahre 2007 (32 Tote). Allen Schulmassakern gemeinsam war, dass die Amokläufer glaubten, von ihren Mitschülern, Mitstudenten und vom Lehrpersonal schwer gedemütigt worden zu sein. Die Terroristen von Charlie Hebo fühlten sich ebenso gedemütigt: Sie sahen sich und den Islam durch die Karikaturen des Propheten Mohammed verletzt.


Der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard sprach im Angesicht der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center von einer neuen Qualität des Terrorismus. Die Qualität bestehe in der Asymmetrie. Mehrere Männer können Flugzeuge entführen und sie in neuralgisch bedeutende, „weiche Ziele” fliegen. Aus terroristischer Sicht waren die Anschläge vom 11. September 2001 demnach eine besonders zufriedenstellende Ausbeute in Bezug auf die Opferzahlen und den Symbolgehalt der Tat: Die Türme und damit auch die Macht der USA fielen, fast 3000 Menschen starben. Der Beginn eines Kampfes der Mächtigen gegen Terroristen begann, die unter uns „schlafen” und jederzeit „aktiviert” werden können wie Killerroboter.

Jean Baudrillard © Public Domain
In Der Geist des Terrorismus schreibt Jean Baudrillard: „[...] Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt. Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall und er ist in jedem von uns. Terror gegen Terror also. Asymmetrischer Terror jedoch. Und es ist gerade diese Asymmetrie, die die weltweite Allmacht völlig wehrlos dastehen läßt. Mit sich selbst im Konflikt, kann sie sich nur auf ihre eigene Logik der Kräftebeziehungen einlassen, ohne auf dem Feld der symbolischen Herausforderung und des Todes mitspielen zu können, von denen sie keinerlei Vorstellung mehr hat, da sie diese aus ihrer eigenen Kultur gestrichen hat.”

Was passiert hier nach dem Massaker von Charlie Hebdo? Wir erleben im  Terrorismus eine Wiedergeburt der Mordphilosophien der Assassinen und der malaiischen Amokkämpfer. Die Drogen der Kämpfer zur Zeit des Mittelalters sind heutzutage einer politisierten Form des Amoklaufs gewichen. Terrororganisationen und extremistische Gruppen erhalten regen Zulauf von meist jungen Männern, die bisher im Leben versagt haben und als Individuen vor den Herausforderungen des Lebens resignieren. Sie suchen die Stärke der Gruppe und den Machtrausch durch Waffengewalt. (Ein Grund, warum das Nazi-Regime so mächtig werden konnte, ist die Tatsache, dass die Führungsriege um Adolf Hitler aus gesellschaftlichen Versagern bestand, die glaubten, von Juden zutiefst gedemütigt worden zu sein. Ihr Amoklauf bestand aus dem Holocaust.) Das Töten an sich ist die Droge und die Flucht aus der harschen Wirklichkeit. Ob nun Terrorist oder Amokläufer: ihnen gemeinsam ist die gesellschaftliche Demütigung.
Auf der weltpolitischen Bühne erleben wir daher gerade das Ende dieses tiefen Grübelns, das einem Amoklauf vorausgeht. 


Schwarzer Regen
von Karl Olsberg, 2009
© Aufbau Verlag
Ein großer Anschlag, der die Dimensionen des
11. Septembers 2001 weit in den Schatten stellt, wird wahrscheinlich jetzt in diesem Moment von Terroristen irgendwo im stillen Kämmerlein geplant. Die potentiellen Täter fühlen sich gedemütigt durch Kritik an ihrem kruden Weltbild oder Glaubenskonstrukt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Mitglieder irgendeiner fanatischen Glaubensgemeinschaft oder unbelehrbaren politischen Gruppe eine Nuklearbombe in einer großen Stadt wie etwa Berlin, London oder New York zünden.
(Denken wir an den geistig verwirrten Attentäter Anders Breivik, der am
22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Ut
øya 77 Menschen ermordete, weil er sich durch den Islam bedroht und gedemütigt fühlte. Für ihn machten 77 oder 1 Millionen Tote keinen Unterschied mehr. Hätte er eine Nuklearbombe zur Verfügung gehabt – er hätte sie vermutlich gezündet.)
Die potentiellen Täter werden die Bombe nicht selbst bauen müssen, wie der Attentäter in Lars Molins „Die Bombe”. Denn Sprengköpfe aus den Beständen der ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte es inzwischen genug geben auf dem Schwarzmarkt, wie der Hamburger Autor Karl Olsberg in seinem schockierenden Thriller Schwarzer Regen anmahnt.


Zurück zum 25. Januar 1988. Die Chipstüte ist alle, meine Fingernägel müssen als Knabberartikel herhalten. Auch die Limonadenflasche ist leer. Der Countdown im Film „Die Bombe” ist inzwischen fast abgelaufen. Die Politiker fanden keine Lösung. Hamburg musste schnell evakuiert werden. Zu sehen sind noch einmal die Alster, der Michel, die leere Innenstadt, das Rathaus, der Hafen.
Drei, zwei, eins...
Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Abspann beginnt und ich hoffe, morgen wird es in der Schule viel zu diskutieren geben (das zumindest ist spannender als Mathe). Doch der Film geht eigentlich noch weiter. Man sieht, wie die Alster verdampft und Hamburg durch die Nuklearbombe dem Erdboden gleichgemacht wird. Die Folgen dieses unfassbaren Verbrechens wurden jedoch herausgeschnitten, weil das ZDF die Szenen vor dem Sendetermin als zu heftig empfand für die deutschen Zuschauer des gediegenen Abendprogramms.

Sollte das Szenario aus Lars Molins „Die Bombe” irgendwann
wirklich geschehen, wird kein Fernsehsender das Grauen herausschneiden können.

PS: „Die Bombe”
wurde übrigens nie wieder gesendet...

© Daniel Gerritzen

Mittwoch, 21. Januar 2015

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Am Freitag, den 5. Oktober 2007 sitze ich im Wohnzimmer und entspanne mich bei ein paar Takten Musik von einem harten Arbeitstag. Da es schon nach Mitternacht ist und ich meine Nachbarn nicht aus dem Bett holen will, dringen die schönen Melodiebögen und atemberaubenden Tempiwechsel meiner Lieblingsband RUSH nur mit sehr moderater Lautstärke aus den 100-Watt-Boxen meiner alten Stereoanlage. Tatsächlich ist die Musik recht leise. Um ehrlich zu sein, muss ich ständig dem starken Drang widerstehen aufzustehen und die Musik lauter zu stellen (was angesichts der Genialität der drei Kanadier, insbesondere des Schlagzeugers Neil Peart, nicht einfach ist).

Neil Peart 2011 © Daniel Gerritzen
Während ich also dem Song Subdivisions (vom Album „Signals”) lausche und mein Blick die Stereoanlage etwa zwei Meter fünfzig von mir entfernt streift, geschieht etwas sehr Unheimliches. In diesem Moment hämmert mein Herz wie wild los. Auf meinem gesamten Körper erscheint eine Gänsehaut. Ich sehe, dass sich der Lautstärkeregler aus unerfindlichen Gründen selbst dreht. Die Musik wird plötzlich lauter. Ich stürze zur Stereoanlage und halte den Knopf fest.
Was ich nun fühle, grenzt an Panik. Denn ich habe das Gefühl, dass jemand – oder etwas – gegen meine Kraftanstrengung den Lautstärkeregler aufdreht. Die Finger meiner Knöchel werden weiß, so sehr versuche ich, die Lautstärke leiser zu drehen. Doch vergeblich. Die Musik wird lauter und lauter.


Ich drücke dagegen. Ich höre das Summen des Drehmotors. Ich frage mich, was ich tun kann, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Strom, zuckt es durch mein Hirn. Ich wühle in der Verkabelung herum und reiße mit zitternden Fingern das Stromkabel aus der Anlage.
Die Musik verstummt jäh. Ich atme aus. Stille. Mein Herz pocht bis zum Hals. Für einen Moment stehe ich entsetzt vor der Anlage, um dann verstört meine rechte Hand von der warmen Metalloberfläche zu lösen.
„What the fuck...?”, rufe ich. 


Ich blicke mich um. Außer mir ist niemand im Wohnzimmer oder in der Wohnung. Ich frage mich, was möglicherweise diese vermeintliche Fehlfunktion ausgelöst haben könnte. Meine erste Theorie ist, dass sich die Gummiknöpfe der Fernbedienung, die auf dem Tisch vor mir liegt, irgendwie verhakt haben könnten, so dass der Knopf für die Lautstärke den Befehl für „Lauter” zur Anlage funkte. Ich untersuche die Fernbedienung. Aber zu meiner wachsenden Beunruhigung sehe ich, dass mit der Fernbedienung alles in Ordnung ist. Kein Knopf hakt oder ist verklemmt. Außerdem habe ich die Lautstärke in der letzten Stunde nicht verändert. Warum sollte dann ausgerechnet jetzt ein verhakter Knopf den Befehl für „Lauter” gesendet haben? 

Diese Theorie kann ich verwerfen. Dann erinnere ich mich. Im Oktober 2003 hatte ich ein ähnliches Erlebnis bei Umzugsvorbereitungen gehabt. Auch damals war ich allein in meiner Wohnung gewesen, umgeben von Umzugskartons. Damals hatte sich die Stereoanlage von selbst eingeschaltet (sie ist definitiv nicht programmierbar). Anschließend hatte sich der Lautstärkeregler ohne erkennbare Ursache lauter gedreht – und mir einen Riesenschrecken eingejagt. Was ich damals als Fehlfunktion eingestuft hatte, stellt sich jetzt als wiederkehrendes Phänomen heraus. Zwischen beiden Ereignissen liegen vier Jahre. Vier Jahre, in denen sich nichts Unheimliches dieser Kategorie ereignet hatte.


Das IGPP in der Wilhelmstraße in Freiburg i.Br.
© Public Domain
Abgesehen von diesen Begebenheiten (und den mysteriösen Umständen vom 6.6.2006) habe ich bis heute, Stand: März 2015, keinerlei außergewöhnliche Erfahrungen mehr gemacht. Meine Stereoanlage arbeitet bis heute fehlerfrei (wie man es von japanischer Technik erwarten kann). Nach den Erlebnissen der vergangenen Jahre frage ich mich heute, ob ich allein bin. Meine Recherche förderte Erstaunliches zutage: So kommt eine empirische Studie des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg i. Br. aus dem Jahr 2002 auf der Basis einer repräsentativen Umfrage unter 1510 Personen zu dem Schluss, dass derartige Phänomene alltäglich und weit verbreitet sind in der deutschen Bevölkerung. Mehr als 50 Prozent der Befragten berichteten, dass sie einmal Phänomene wie Vorahnungen oder Wahrträume am eigenen Leib erfahren hätten. Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Erfahrung außergewöhnlicher Erlebnisse mit dem Alter anscheinend abnimmt. Je jünger Menschen sind, umso häufiger machen sie diese Erfahrungen. Dabei sind die Erlebnisse unabhängig vom Bildungsgrad, der Herkunft, dem Geschlecht oder etwa der Religion.

Fazit: Anomalistische Phänomene sind real existent. Laut Studie des IGPP treten diese Ereignisse stets spontan auf. Die mangelnde wissenschaftliche Reproduzierbarkeit ist auf den ersten Blick der Grund, warum die akademische Welt – abgesehen von den wenigen mutigen Psychologen und Soziologen – diese Erfahrungen nicht weiter erforscht. Der wahre Grund jedoch ist die Angst vieler Wissenschaftler vor dem absoluten Kontrollverlust. Kontrollverlust deshalb, weil Träume, die plötzlich wahr werden oder Stereoanlagen, die grundlos lauter werden, nicht erklärbar sind. Die Nichterklärbarkeit würde die Kompetenz und den Erfahrungshorizont der Wissenschaftler auf sehr harsche Weise an ihre Grenzen stoßen lassen. Die Folge wäre das Eingeständnis der Hilflosigkeit gegenüber diesen Phänomenen, die die experimentelle Parapyschologie in zwei Kategorien unterteilt: 


1. den kognitiven Aspekt, der die mentalen Prozesse im Gehirn des Menschen betrifft und etwa Telepathie, Fernwahrnehmung oder Wahrträume umfasst und 

2. den motorischen Aspekt, d.h. die Frage, ob Menschen mit der Kraft ihrer Gedanken Materie beeinflussen können (Psychokinese). 

Dabei könnte es eine natürliche Erklärung für das merkwürdige Verhalten meiner Stereoanlage geben. Starke Temperaturschwankungen innerhalb der Transistoren hätten dafür sorgen können, dass die Stereoanlage lauter wurde. Jemand hätte sich mit einer Infrarotfernbedienung, die Befehle auf einer identischen Frequenz sendet, im Wohnzimmer meiner Wohnung verstecken können, um mich zu erschrecken. Ein Spannungsschock, ausgelöst durch den Einschlag eines Blitzes, hätte die Anlage lauter werden lassen können. Oder eine Oxidation der Kontakte hätte den Ein-Aus-Schalter bzw. den Lautstärkerregler verrückt spielen lassen können.
Aber: Die Anlage war keiner starken Temperaturschwankung ausgesetzt. Ich war eindeutig allein in meiner Wohnung. Auch ein Blitzeinschlag hätte nicht nur die Stereoanlage zerstört, sondern vielleicht sogar meine Wohnung in Brand gesetzt. Selbst eine Oxidation der Kontakte für den Ein-Aus-Schalter bzw. des Lautstärkerreglers scheidet aus, denn die Anlage wurde in Japan aus rostfreien elektronischen Komponenten konstruiert. Und japanische Techniker machen äußerst selten Fehler.


William von Ockham
© Public Domain
Das auf den angelsächsischen Franziskanermönch William von Ockham (1288–1347) zurückgehende „Rasiermesser” besagt, dass a) von mehreren Erklärungsmöglichkeiten die einfachste zu bevorzugen ist und b) eine Theorie zur Erklärung eines Ereignisses so wenig wie möglich logische Brüche und Widersprüche enthalten darf. So war die einfachste Erklärung für Ockham immer die richtige. In anderen Worten: Es ist wahrscheinlicher, dass ein übermüdeter Ingenieur einen Putzlappen in einer sensiblen Stelle der Treibstofftanks des Space Shuttle Challenger vergaß, als dass libysische Terroristen im Auftrag von Muhammar al-Gaddafi die Raumfähre zur Explosion brachten. Warum? Weil es mit weniger kausalem Aufwand verbunden ist, einen Putzlappen zu vergessen, als eine Verschwörung libyscher Terroristen zu bemühen, deren Ziel es war, das Space Shuttle kurz nach dem Start am 28. Januar 1986 in die Luft zu sprengen.

Doch bei mindestens einem weiteren Fall versagt Ockhams Rasiermesser ebenso. Michael Shermer, ein experimenteller Psychologe an der Claremont University in Kalifornien und Gründer der Zeitschrift Skeptic, scheint etwas Ähnliches erlebt zu haben wie ich. Normalerweise ist der bekennende Atheist und gnadenlose Skeptiker bekannt dafür, alle anomalistischen Ereignisse, die von Menschen in aller Welt berichtet werden, mit Hilfe des rationalen Verstands und Ockhams Rasiermesser zu erklären. In seiner Kolumne für das angesehene Wissenschaftsmagazin Scientific American berichtete Shermer, dass seine aus Köln stammende Ehefrau Jennifer, die er im Juni 2014 heiratete, bei ihrem Einzug in Beverly Hills ein altes Radio von ihrem Großvater mitbrachte. Mehrere Versuche Shermers, das Radio mit neuen Batterien oder durch eine Reparatur in Betrieb zu nehmen, schlugen fehl. Seines Erachtens war es eindeutig defekt. Selbst „Draufhauen” half nicht mehr, um irgendwelche Wackelkontakte kurzzeitig wieder zu schließen, wie er in seinem Artikel ausführt. So steckten die Shermers das Radio in den hinteren Winkel der Schublade ihres Schreibtisches im Schlafzimmer. Entsorgen wollten sie es nicht, da das Radio einen zu hohen ideellen Wert für Jennifer Shermer hatte. 


Michael Shermer © Public Domain
Das Unerklärliche geschah drei Monate später, als Jennifer Shermer ihrem Mann gerade beichtete, dass sie ihre deutschen Freunde und ihren Großvater vermisse. In diesem Moment erklang Musik aus einem hinteren Teil des Hauses, genauer, dem Schlafzimmer. Nachdem die Shermers ihre I-Phones, Notebooks und sogar den Drucker auf dem Schreibtisch kontrollierten, mussten sie feststellen, dass die Musik von dem defekten Radio ausging. Es funktionierte plötzlich wieder. Es spielte einige Stunden – seitdem schweigt es.

Die Erklärung nach Ockhams Rasiermesser würde lauten, dass sich irgendein Kontakt kurzzeitig geschlossen hatte, sodass das Radio wieder funktionierte. Oder Michael Shermer hat den Vorfall von langer Hand geplant, um irgendwann sein erzkonservatives Skeptikertum ablegen zu können. Dagegen spricht natürlich, dass sich Michael Shermer mit seinem Eingeständnis, Zeuge eines solch unerklärlichen Vorfalls geworden zu sein, öffentlich lächerlich machen würde.

Doch das Gegenteil ist nun der Fall: Das Ereignis hat Michael Shermers skeptische Sichtweise so sehr verändert, dass er nun für eine agnostische Sicht auf unerklärliche Ereignisse plädiert. Der naturwissenschaftliche Geist, so Shermer, müsse offen sein für das Rätselhafte und Unerklärliche.


Es gibt keinen Beweis dafür, dass Shermers Ereignis stattgefunden hat, nur zwei Zeugenaussagen. Aber ich glaube Michael Shermer, weil ich Ähnliches erlebt habe. Andererseits denke ich nicht, dass der Shermer-Vorfall irgendetwas mit dem Jenseits und Jennifer Shermers Großvater zu tun hatte, sondern vielmehr – wenn sich keine natürliche Erklärung ergibt – mit psychischer Externalisierung von Stress. Im Falle von Michael Shermers Frau Jennifer ist das Stressmoment klar benannt: sie vermisste ihren Großvater und hatte starkes Heimweh nach Deutschland. Somit war es kein übernatürliches, sondern vielleicht ein parapsychologisches motorisches Ereignis der Kategorie 2 (Psychokinese). Aber das ist Spekulation. Es bleibt ein anomalistisches Ereignis. Es ist nicht erklärbar – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Charles Fort © Public Domain
Der amerikanische Schriftsteller und Sammler von unerklärlichen Vorfällen, Charles Fort, bezeichnete diese Phänomene in seinem 1932 erschienenen gleichnamigen Klassiker schlicht als Wilde Talente. Meine Erlebnisse gehören, wie Shermers Erlebnisse, in die Kategorie 2 – und bislang habe auch ich keine Erklärung dafür. Habe ich ein „wildes Talent”? Haben die Shermers ein „wildes Talent”?

Ich glaube nicht. Und dennoch ist da etwas, das sich meinem und Michael Shermers Wahrnehmungshorizont entzieht. Wie Shermer, so bin auch ich nun offen für das Rätselhafte (Schriftsteller leben davon...), behalte mir jedoch meine Skepsis und die Möglichkeit einer orthodoxen Erklärung vor. Ich habe keine Angst vor dem Kontrollverlust.

© Daniel Gerritzen