Montag, 9. Februar 2015

Die Angst vor dem Ende des Grübelns

25. Januar 1988. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe mir bei Kartoffelchips und Limo im ZDF einen Film mit dem Titel „Die Bombe” an (und versuche, die morgige Mathearbeit zu verdrängen). Michael Degen spielt hier einen Terroristen, der als stellvertretender Sicherheitschef eines Atomkraftwerks an spaltbares radioaktives Material gelangt ist und damit im heimischen Keller eine Atombombe gebaut hat. An einem Sonntagmorgen stellt er die selbstgebastelte Waffe auf dem Hamburger Rathausplatz auf und fordert, dass die illegale Herstellung und geheime Lagerung von Plutonium in „seinem” Atomkraftwerk durch die deutsche Bundesregierung sofort eingestellt wird.
Der Senat und die Sicherheitskräfte müssen sich eingestehen, dass sie hilflos sind gegenüber der raffinierten technischen Vorrichtung der Bombe, die von dem Täter in kurzen Abständen neu eingestellt werden muss, um nicht zu detonieren. Doch er lässt sich nicht von den fingierten Nachrichtenmeldungen beirren, die angeblich belegen, dass die Regierung seine Forderungen erfüllt. Fassungslos muss ich mit ansehen, dass es den Politikern und Sicherheitskräften nicht gelingt, die immer dramatischer werdende Situation zu lösen. Der Countdown läuft. Wird Hamburg dem Erdboden gleichgemacht? Geschieht das Unfassbare? Fest steht für mich beim Ansehen des Films, dass dieser Bombenbauer von Hamburg ein Terrorist ist, denn er stellt eine politische Forderung. 


Die Bombe von Lars Molin, 1982
© Rowohlt Verlag
Der Film des Regisseurs Christian Görlitz basiert auf dem Roman „Die Bombe” des inzwischen verstorbenen schwedischen Autors Lars Molin. In Molins Roman stellt ein ehemaliger Angestellter eines Atomkraftwerks die selbstgebaute Bombe in Stockholm auf. Was im Film nur angerissen wird, erhält im Buch eine viel tiefere Dimension: die Psyche des Täters. Im Buch rächt sich der Mann für eine gescheiterte Beziehung, für Mobbing durch seine Kollegen. So ist seine Tat nur die vermeintliche logische Konsequenz seiner Wut auf diejenigen, die ihn gedemütigt und geschmäht haben. Er ist ein Ausgestoßener. Er sucht sich sein zerstörerisches Ventil in Form der Bombe – je abstrakter die Tötungsform, umso geringer ist der Skrupel, die Waffe einzusetzen. Fest steht für mich nach der Lektüre des Romans, dass der Bombenbauer von Stockholm das Psychogramm eines Amokläufers aufweist, denn er rächt sich an seinen Peinigern. Angesichts der zwei unterschiedlichen Motive im Film und im Roman stellt sich nun jedoch die sehr spannende Frage, wie sich das Psychogramm eines Terroristen von dem eines Amokläufers unterscheidet. 

Der Begriff „Amok” leitet sich von dem malaiischen Wort „mengamuk” ab und bedeutet so viel wie „verrückt werden”. Psychologen vermuten, dass ein Amoklauf das Resultat einer sogenannten „dissoziativen Störung” sein könnte. Das Bewusstsein des Betroffenen spaltet – dissoziiert – sich von den Sinneseindrücken ab. Ein Beispiel: Das Bewusstsein eines Yogis auf dem Nagelbrett ist dissoziiert von seinen Empfindungen, denn sein Geist blendet den Schmerz aus. Aber auch das Bewusstsein eines Amokläufers ist dissoziiert, denn er hat in seiner Wut auf die Personen, die ihn gedemütigt haben, keinen Blick mehr für die tragischen Folgen seines Handelns. Er ist berauscht von der Macht der Waffen und der Angst seiner Opfer. Es entsteht in seinem Geist eine Art weißes Rauschen, das sich erst nach der Tat auflöst, so als ob er plötzlich einen Fernsehsender findet und ein klares Bild sieht. Wenn der Amokläufer das klare Bild – das von ihm angerichtete Blutbad – dann erkennt, stürzt die Realität auf ihn ein und er findet meistens keine andere Lösung, als sich selbst das Leben zu nehmen. Ich schreibe „der Amokläufer”, weil die Täter bis auf ganz wenige Ausnahmen männlichen Geschlechts sind.

Soziologische Studien belegen, dass „Amokläufer” meistens Außenseiter der Gesellschaft sind, die mit unterdrückten Aggressionen und einer verringerten Fähigkeit kämpfen, Konflikte friedlich zu lösen. Es mangelt ihnen meistens an Selbstbewusstsein, das nötig wäre, um sich gegen schwere Demütigungen zur Wehr zu setzen.
Üblicherweise geht im Gehirn des Amokläufers vor seiner Tat eine sehr lange und intensive Phase des Grübelns über die ihm widerfahrenen Demütigungen und Schmähungen voran.
Dieses Grübeln ist eine Form der Zwangsgedanken. Probleme und erfahrene emotionale Verletzungen werden immer wieder hin- und her gewälzt. Der potentielle Amokläufer sieht selbst nach Wochen oder Monaten des Grübelns über seine erlittenen emotionalen Verletzungen keine andere Lösung für das Problem, als den Tod der Personen, die ihm den Schmerz zugefügt haben. Nach dem Grübeln kommt die Phase des Planens. Der Täter kauft Waffen, Sprengstoff, tüftelt vielleicht Pläne aus, so viele Menschen wie möglich in den Tod zu reißen. Er plant einen Kampf gegen die personifizierten Demütigungen, nicht gegen Menschen. Die Menschen materialisieren sich erst in seinem Bewusstsein, wenn sie tot vor ihm liegen. Ein Amoklauf ist daher nie ein spontanes Ereignis – vielmehr plant der Täter sein Massaker äußerst minutiös, so wie Terroristen einen Anschlag.


Der Assassinen-Führer Hassan i-Sabah
© Public Domain
Ursprünglich ist der Amoklauf eine militärische Kriegstechnik. Malaiische Kämpfer versetzten sich vor dem Angriff in einen Drogenrausch und richteten dann durch ihr dissoziiertes Bewusstsein in den feindlichen Linien schreckliche Massaker an. Diese kriegerischen Amokläufer nahmen dabei ihren eigenen Tod in Kauf.
Die Akzeptanz des eigenen Todes durch einen Akt der mörderischen Raserei war auch im Mittelalter unter den Assassinen verbreitet. Die Assassinen waren eine Abspaltung von der islamischen Glaubensgemeinschaft der schiitischen Ismaeliten, die in Persien von der Burg Alamut aus unter der Führerschaft von Hassan i-Sabah (1034–1124 n. Chr.) und später in Syrien unter dem „Alten vom Berge”, Raschid ad-Din Sinan (1133–1192), politische Morde verübten. Dabei konsumierten die Mitglieder der Assassinen vor den Attentaten Drogen wie Haschisch, um ihr Bewusstsein von den Sinneseindrücken loszulösen. (Daher wahrscheinlich der Begriff „Assassine” als Synonym für einen „Meuchelmörder”, abgeleitet von „Hassasin” für „Haschisch-Esser”.) Auch die Assassinen nahmen ihren Tod in Kauf. Die ersten politischen Terroristen waren somit streng genommen Amokläufer, die durch Drogen ihre Angst vor dem Tod unterdrückten.


Amokläufer Seung-Hui Cho vor dem Massaker
am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg,
Virgina, 2007 © NBC News
Der Unterschied zwischen einem Amokläufer und einem Terroristen ist mithin eigentlich nicht existent, wie jüngst der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebo in Paris zeigt. Zwei mit automatischen Waffen ausgerüstete islamistische Terroristen stürmten am
7. Januar 2015 in die Büroräume der Zeitschrift und erschossen 12 Menschen. Die Tat gleicht von ihrem Hergang den Amokläufen wie etwa an der Columbine Highschool in Colorado im Jahre 1999 (13 Tote), am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im Jahre 2002 (15 Tote) oder am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg, Virginia, im Jahre 2007 (32 Tote). Allen Schulmassakern gemeinsam war, dass die Amokläufer glaubten, von ihren Mitschülern, Mitstudenten und vom Lehrpersonal schwer gedemütigt worden zu sein. Die Terroristen von Charlie Hebo fühlten sich ebenso gedemütigt: Sie sahen sich und den Islam durch die Karikaturen des Propheten Mohammed verletzt.


Der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard sprach im Angesicht der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center von einer neuen Qualität des Terrorismus. Die Qualität bestehe in der Asymmetrie. Mehrere Männer können Flugzeuge entführen und sie in neuralgisch bedeutende, „weiche Ziele” fliegen. Aus terroristischer Sicht waren die Anschläge vom 11. September 2001 demnach eine besonders zufriedenstellende Ausbeute in Bezug auf die Opferzahlen und den Symbolgehalt der Tat: Die Türme und damit auch die Macht der USA fielen, fast 3000 Menschen starben. Der Beginn eines Kampfes der Mächtigen gegen Terroristen begann, die unter uns „schlafen” und jederzeit „aktiviert” werden können wie Killerroboter.

Jean Baudrillard © Public Domain
In Der Geist des Terrorismus schreibt Jean Baudrillard: „[...] Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt. Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall und er ist in jedem von uns. Terror gegen Terror also. Asymmetrischer Terror jedoch. Und es ist gerade diese Asymmetrie, die die weltweite Allmacht völlig wehrlos dastehen läßt. Mit sich selbst im Konflikt, kann sie sich nur auf ihre eigene Logik der Kräftebeziehungen einlassen, ohne auf dem Feld der symbolischen Herausforderung und des Todes mitspielen zu können, von denen sie keinerlei Vorstellung mehr hat, da sie diese aus ihrer eigenen Kultur gestrichen hat.”

Was passiert hier nach dem Massaker von Charlie Hebdo? Wir erleben im  Terrorismus eine Wiedergeburt der Mordphilosophien der Assassinen und der malaiischen Amokkämpfer. Die Drogen der Kämpfer zur Zeit des Mittelalters sind heutzutage einer politisierten Form des Amoklaufs gewichen. Terrororganisationen und extremistische Gruppen erhalten regen Zulauf von meist jungen Männern, die bisher im Leben versagt haben und als Individuen vor den Herausforderungen des Lebens resignieren. Sie suchen die Stärke der Gruppe und den Machtrausch durch Waffengewalt. (Ein Grund, warum das Nazi-Regime so mächtig werden konnte, ist die Tatsache, dass die Führungsriege um Adolf Hitler aus gesellschaftlichen Versagern bestand, die glaubten, von Juden zutiefst gedemütigt worden zu sein. Ihr Amoklauf bestand aus dem Holocaust.) Das Töten an sich ist die Droge und die Flucht aus der harschen Wirklichkeit. Ob nun Terrorist oder Amokläufer: ihnen gemeinsam ist die gesellschaftliche Demütigung.
Auf der weltpolitischen Bühne erleben wir daher gerade das Ende dieses tiefen Grübelns, das einem Amoklauf vorausgeht. 


Schwarzer Regen
von Karl Olsberg, 2009
© Aufbau Verlag
Ein großer Anschlag, der die Dimensionen des
11. Septembers 2001 weit in den Schatten stellt, wird wahrscheinlich jetzt in diesem Moment von Terroristen irgendwo im stillen Kämmerlein geplant. Die potentiellen Täter fühlen sich gedemütigt durch Kritik an ihrem kruden Weltbild oder Glaubenskonstrukt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Mitglieder irgendeiner fanatischen Glaubensgemeinschaft oder unbelehrbaren politischen Gruppe eine Nuklearbombe in einer großen Stadt wie etwa Berlin, London oder New York zünden.
(Denken wir an den geistig verwirrten Attentäter Anders Breivik, der am
22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Ut
øya 77 Menschen ermordete, weil er sich durch den Islam bedroht und gedemütigt fühlte. Für ihn machten 77 oder 1 Millionen Tote keinen Unterschied mehr. Hätte er eine Nuklearbombe zur Verfügung gehabt – er hätte sie vermutlich gezündet.)
Die potentiellen Täter werden die Bombe nicht selbst bauen müssen, wie der Attentäter in Lars Molins „Die Bombe”. Denn Sprengköpfe aus den Beständen der ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte es inzwischen genug geben auf dem Schwarzmarkt, wie der Hamburger Autor Karl Olsberg in seinem schockierenden Thriller Schwarzer Regen anmahnt.


Zurück zum 25. Januar 1988. Die Chipstüte ist alle, meine Fingernägel müssen als Knabberartikel herhalten. Auch die Limonadenflasche ist leer. Der Countdown im Film „Die Bombe” ist inzwischen fast abgelaufen. Die Politiker fanden keine Lösung. Hamburg musste schnell evakuiert werden. Zu sehen sind noch einmal die Alster, der Michel, die leere Innenstadt, das Rathaus, der Hafen.
Drei, zwei, eins...
Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Abspann beginnt und ich hoffe, morgen wird es in der Schule viel zu diskutieren geben (das zumindest ist spannender als Mathe). Doch der Film geht eigentlich noch weiter. Man sieht, wie die Alster verdampft und Hamburg durch die Nuklearbombe dem Erdboden gleichgemacht wird. Die Folgen dieses unfassbaren Verbrechens wurden jedoch herausgeschnitten, weil das ZDF die Szenen vor dem Sendetermin als zu heftig empfand für die deutschen Zuschauer des gediegenen Abendprogramms.

Sollte das Szenario aus Lars Molins „Die Bombe” irgendwann
wirklich geschehen, wird kein Fernsehsender das Grauen herausschneiden können.

PS: „Die Bombe”
wurde übrigens nie wieder gesendet...

© Daniel Gerritzen