Dienstag, 5. März 2019

Die Angst vor dem Vergessensein

Ein Großteil der Menschen gerät nach ihrem Tod in Vergessenheit. Manchmal bewahrt sie nur der Zufall davor. Neulich berichtete mir ein Freund von seinem Urlaub in Portugal an der Algarve und wie steil die Küste dort sei. So steil, dass die Eltern eines jungen Mannes aus Deutschland, der die Klippe hinabstürzte und starb, einen Gedenkstein als Warnung für Touristen anbringen ließen. Im Internet finde man Bilder des Gedenksteins. Der Mann hieße Sven Greeff, am 25. August 1973 in Essen geboren, am 4. Juni 2001 gestorben.

Der Gedenkstein von Sven Greeff am
Cabo Sao Vicente © Nino Munoz, 2010
Sven war ein ehemaliger Schulkamerad, an den ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte. Sven Greeff war 1984, als ich ihn kennenlernte, ein Junge von sportlicher Statur mit blonden Haaren. Seinen wachsamen Augen, die oft über den Rand seiner Brille hinweglugten, entging nur wenig. Etwa 1987 trug er gerne Bluejeans, eine rote Daunenweste, eine Baseballkappe und knöchelhohe, weiße Puma-Sportschuhe. Hätten wir nicht in Deutschland gelebt, so würde ich sagen, er wäre geradewegs aus einem amerikanischen Teenie-Film entsprungen. Wie wir alle, saß Sven jeden Abend pünktlich vor der Flimmerkiste, um „Ein Colt für alle Fälle”, „Trio mit vier Fäusten” oder „Magnum” zu sehen. Er interessierte sich für alles Ungewöhnliche – was sich, wie bei mir, nur selten mit dem Schulunterricht deckte. Seine langsame, überlegte Wortwahl war unterbrochen von einem heftigen Stottern. Je aufgeregter er war, umso stärker wurde das Stottern – und mithin sein Komplex, der sich daraus ergab. Es brachte Sven dazu, sich aus dem aktiven Unterricht auszuklinken und geistig irgendwo im Weltraum während einer Star-Wars-Ballerei anzudocken, was die Lehrer manchmal als Faulheit oder Arroganz auslegten und ihn deswegen zu Unrecht aufs Korn nahmen. Auffallend war das mangelnde Bemühen der Lehrer, Sven als Person zu verstehen. Das hatte Konsequenzen.

Seine Skepsis gegenüber Schulautoritäten gipfelte darin, dass er der Aufsicht führenden Kunstlehrerin während der Pause unabsichtlich einen Schneeball in ein Auge warf. Ich glaube, es brachte ihm eine Klassenkonferenz ein. Während einer Frühstückspause pokerten wir in einem Gebüsch. Natürlich wurden wir vom Aufsicht führenden Sportlehrer erwischt und mussten einen Text schreiben, warum man während der Pause nicht im Gebüsch mit Playboy-Karten pokern soll, auf denen nackte Frauen abgebildet sind. Aber Sven wollte uns mit den nackten Frauen beeindrucken. Als er einmal während des Mathematikunterrichts zur Tafel zitiert wurde, damit er eine Funktionsgleichung vorrechnete, zeichnete er zur großen Verärgerung der Lehrerin
(„Was hat er denn jetzt vor?”) und dem Gelächter der Schulkollegen anstatt eines Graphen ein Zielkreuz. Und irgendwann kam die Polizei in die Schule und sprach mit ihm über die Warnleuchten, die er bei einigen Baustellen abmontiert und Schülern verkauft hatte – offensichtlich, um bei ihnen Eindruck zu machen und endlich den Außenseiterstatus loszuwerden. Wie ich auch, so war Sven damals vom C64-Virus infiziert. Er liebte es, an Samstagen mit seinem Commodore C64 „Uridium 3” oder „Ace of Aces” zu zocken und aus dem Radio Hits auf Kassetten aufzunehmen. Oder mit seinem CB-Funkgerät zu kommunizieren. Aber all das musste er aufgeben, nachdem sein Handel mit Baustellenwarnleuchten aufgeflogen war.

Im Frühjahr 1987 berichtete er mir, dass er zuhause ein CB-Funkgerät übrig hätte, das er mir verkaufen könnte. Der einzige Nachteil: das Display für die Signalstärke sei nicht beleuchtet, weil die Leuchtdiode defekt sei.
Das andere, linke Display funktionierte. Ich kaufte es ihm trotzdem für 25 D-Mark ab. Als ich so abends durch die Kanäle zappte und davon träumte, Außerirdische zu hören, stellte ich schnell fest, dass die hereinkommenden Funksprüche aufgrund der kleinen Antenne und des nicht sehr sensiblen Empfängers sehr unverständlich waren. Ich kam nicht acht Lichtjahre weit, sondern höchtens acht Kilometer. Ich benötigte eine größere Antenne und eine stärkere Sende-Empfangsanlage.

Jodie Foster als Elly Arroway in „Contact“ (1997)
© Warner Bros.
Für eine grundlegende Erkenntnis war das Funkgerät immerhin gut. Sven hatte mir gezeigt, dass, wenn man über eine ausreichend große Antenne und eine sensible Sende-Empfangsanlage verfügte, man theoretisch mit Jedermann auf der Erde kommunizieren konnte.
„S-s-sogar mit Außerird-d-d-dischen!”, sagte Sven und deutete in den Himmel. Vorausgesetzt, E.T. verfügte über Radiowellentechnologie wie die Menschheit. Wenige Wochen, bevor ich das Funkgerät kaufte, hatte ich den Roman „Contact” von Carl Sagan gelesen, der sich mit der Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen (SETI) und ihren Folgen befasst. Die Protagonistin Elly Arroway kämpfte mit einem ähnlichen Problem wie ich. Sie brauchte eine größere Antenne, um mögliche Radiosendungen von einer außerirdischen Zivilisation zu empfangen. Diese hatte sie nach ihrem Studium im Radioobservatorium von Arecibo in Puerto Rico und später im Very Large Array in New Mexico zur Verfügung. Im Roman (und im gleichnamigen Film) schafft es Elly Arroway nach Jahren der Suche den Kontakt mit Außerirdischen herzustellen, obwohl sie eigentlich unbewusst mit ihrem verstorbenen Vater im Jenseits sprechen möchte, den sie seit Kindheitstagen vermisste.


1988 fuhr unsere Stufe nach Mittenwald in die Bayerischen Alpen, um Skifahren zu lernen. Sven, ich und vier weitere Jungs waren in einem Zimmer direkt neben dem Konrektor untergebracht. (Noch heute wache ich schweißgebadet auf, wenn ich daran denke, dass wir Bierdosen kreisen ließen und „der Schleifer”, wie wir ihn nannten, jederzeit hätte hereinplatzen können, um uns zur Sau zu machen.) Mit 14 Jahren konzentrierten sich unsere Gespräche größtenteils auf aktuelle Fernsehserien, Kinofilme und die aufgekommene Welle von Heavy-Metal-Bands wie Iron Maiden oder Def Leppard (und das eine oder andere Mädchen). Als alle anderen schliefen, verriet mir Sven etwas, das ihn sehr beschäftigte. Im Fernsehen liefe eine coole Fernsehserie, die wenige Wochen zuvor in der ARD gestartet sei und „Die Bradbury-Trilogie” hieße („The Bradbury Theater” auf Englisch). Es seien 25-minütige Filme, die auf Geschichten des amerikanischen Autors Ray Bradbury basierten. In der dritten Folge, „Die Menge aus dem Nichts”, die am 19. Januar im Vorabendprogramm der ARD lief, würde etwas Beängstigendes geschehen...

Ray Bradbury © Alan Light, 1975
Mr. Spallner hat einen schweren Autounfall, er überlebt jedoch. Als er im Krankenhaus behandelt wird, erinnert er sich wieder daran, dass sich die Räder seines Wagens noch drehten, als eine Menschenmenge plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und neugierig auf ihn hinabschaute, obwohl... ja, obwohl die Straßen kurz zuvor menschenleer waren – da war sich Mr. Spallner sicher. Wenige Tage später wird Spallner Zeuge, wie ein Taxifahrer mit seinem Wagen verunglückt. Wieder eilen die gleichen Menschen zur Unfallstelle herbei und starren den Verletzten an. Spallner recherchiert und erkennt, nachdem er Unfallfotos vergleicht und immer wieder dieselben Menschen auftauchen, dass sie scheinbar schon immer gelebt haben müssen und eine bestimmte Aufgabe haben. Sven schlussfolgerte: „Sie w-wollen si-si-chergehen, wer st…sterben und w…wer üb-b-b-berleben soll.” So scheinen sie das schon immer gemacht zu haben, glaubt Mr. Spallner. Sie sind das personifizierte Schicksal. Ray Bradbury lässt uns im Unklaren, wer diese Menschenmenge ist. In der Nacht konnte ich nur sehr schlecht schlafen. Die Story und Svens Fähigkeit, eine unheimliche Geschichte widerzugeben, haute mich jedoch aus den Socken. Ich las später alles, was ich von Ray Bradbury in die Finger bekommen konnte.

Jetzt, nach der traurigen Nachricht, bin ich mir sicher, dass es so ähnlich war an jenem 4. Juni 2001, als Sven am Cabo de São Vicente auf die Klippe trat und aus Neugier hinunterschauen wollte, wie die Menschenmenge in der Folge „The Crowd” in der Bradbury-Trilogie. Vielleicht sahen Freunde hilflos zu, wie Sven abstürzte. Vielleicht sahen aber auch nur Möwen zu, die im Moment des Unfalls gleichgültig ihre Kreise über den Küstenfelsen zogen.

Erstkontakt
© Franckh Kosmos 2016
Das CB-Funkgerät habe ich immer noch. Wenn ich es einschalte, dringt ein dumpfes, fernes Rauschen aus dem Lautsprecher. Manchmal durchsticht das atmosphärische Rauschen der Radiowellen ein Brubbern, begleitet von einem fernen, metallischen Kreischen. Die Ionosphäre hält seltsame Monologe. Das Licht des Displays war all die Jahre defekt. Es leuchtet immer noch nicht. Und noch immer habe ich keine größere Antenne, aber inzwischen ein Buch über SETI geschrieben. Als ich den Kanal wechsele, vernehme ich ein rhythmisches Klopfen im Rauschen. Es mutet wie ein geheimer Morsecode an.

Ich nehme das Mikrophon, drücke auf „Senden” und flüstere: „Sven?” Dann, noch einmal, jetzt mutiger: „SVEN?” Ich zögere und komme mir blöd vor, als ich hinzufüge: „Danke für alles!”
Ich warte und lausche. Ohne Svens Funkgerät hätte sich niemals meine Faszination für SETI gefestigt und hätte ich niemals die genialen Geschichten von Ray Bradbury gelesen, die mich ab dem 15. Lebensjahr so sehr prägen würden. Sven war ein liebenswerter, aufgeweckter Bursche, frustriert ob der oftmals ignoranten Lehrerschaft. Die Lehrer werden ihn längst vergessen haben.
Ich bin froh, dass ich Sven nicht vergessen werde. Wie könnte ich das auch, denn zwischen uns schwingt durch die Zeit hinweg immer noch ein magisches, unsichtbares Band. In meiner Erinnerung stirbt er niemals.

Wie gigantisch auch immer die Antenne meines Funkgeräts sein müsste oder wie stark der Sender – dort, wo Sven jetzt vielleicht ist, wird er selbst damit nicht zu erreichen sein. Nur das ferne atmosphärische Kreischen im Hintergrundrauschen antwortet mir. Es klingt wie einsames Möwengeschrei in der schweren Meeresbrandung der Algarve.

Dienstag, 24. Mai 2016

Gastbeitrag Douglas Preston: Tief im Wald

Im Jahr 1950 fragte der italienisch-stämmige Physiker Enrico Fermi bei einem Mittagessen in der Forschungseinrichtung von Los Alamos in New Mexico seine Kollegen Edward Teller, Emil Konopinski und Herbert York: „Wo sind sie alle?”
Fermi bezog sich mit dieser einfachen Frage auf den folgenden Gedanken: Wenn unsere Galaxis bereits vor Jahrmillionen von fortgeschrittenen außerirdischen Zivilisationen kolonisiert wurde, müssten ihre Raumschiffe inzwischen auch die Erde erreicht haben. Fermi sah in UFO-Sichtungen keinen Beweis für die Anwesenheit von außerirdischen Zivilisationen. Weil wir Außerirdische nicht sehen, so Fermi, existierten sie auch nicht.

Der britische Physiker Stephen Webb von der Londoner Open University fasste 50 Lösungen für Fermis Frage zusammen, warum wir Außerirdische bislang nicht entdeckt haben. Seine Erklärungen reichen von der Möglichkeit, dass Außerirdische unerkannt unter uns weilen könnten, bis zur Tatsache, dass unsere Galaxis durch Supernova-Explosionen, schwarze Löcher und Ausbrüche von
Röntgenstrahlen ein sehr gefährlicher Ort ist, der die Entstehung von Leben nicht begünstigt.

Stephen King, der in seinen Romanen Tommyknockers und Dreamcatcher ziemlich unangenehme Erstkontakt-Szenarien skizziert, zieht Antwort Nr. 27 aus Stephen Webbs Katalog vor: „Über 50 Jahre belauschen wir die Sterne nach Hinweisen für Leben. Bis jetzt hören wir nichts als Schweigen. Wenn man sich heute all die Konflikte in der Welt ansieht und darüber nachdenkt, dass unsere technologischen Kenntnisse die Fähigkeit, unsere Emotionen zu kontrollieren, längst überholt haben – man sieht es gerade beim Islamischen Staat –, wie sieht dann die Lösung aus? Die einzige Lösung, die wir sehen, ist, diese Vollidioten zu bombardieren, so dass sie einfach nicht die Welt überrollen können. Und das ist das Gruselige an diesem Schweigen: Vielleicht erreichen alle intelligenten Lebewesen dieses Stadium der Gewalt und des technologischen Fortschritts – und kommen nicht darüber hinaus. Sie löschen sich selbst aus. Man fährt vor die Wand – und das war’s.
(Rolling Stone Magazine, Oktober 2014)

Dieses kosmische Schweigen nannte der amerikanische Physiker und Science fiction-Autor David Brin die „große Stille”. 1983 untersuchte er einige mögliche Ursachen für die „große Stille in seinem wegweisenden Aufsatz „The Great Silence”. Brin vergleicht die junge Menschheit mit einem Baby, das in einer Wiege schläft. Das Kindermädchen ist absichtlich ruhig, um nicht die schönen Träume des Kindes zu stören. David Brin zeigt aber noch eine andere Möglichkeit auf,
die Antwort 22 in Stephen Webbs Katalog zur berühmten Frage Enrico Fermis entspricht: Außerirdische Robotsonden, die der Science fiction-Autor Fred Saberhagen Berserker nannte, entdecken die Radiosignale junger Zivilisationen und vernichten sie, um unliebsame Konkurrenten auszulöschen. Daher ist die Galaxis so still wie sie jetzt erscheint. Viele Zivilisationen sind bereits vernichtet, so wie es Greg Bear in seinem Roman Schmiede Gottes auf so eindringliche Weise schildert. Die Erde könnte das nächste Ziel sein, da die Menschheit tagtäglich Radio-, Fernseh- und Radarsignale ins All sendet. Brins „große Stille” ist demnach die Ruhe vor dem Sturm. Die Ungeduld vieler SETI-Wissenschaftler, die den Kontakt herbeisehnen, könnte bald bitter bestraft werden.

Douglas Preston
© Christine Preston
Was hat das nun mit Angst zu tun? Die Antwort ist simpel: Die Wissenschaftler, die SETI betreiben und nach Radiosignalen von Aliens suchen, verdrängen ihre Urängste vor dem maximal Fremdartigen und Unbekannten. Diese Ängste sagen ihnen eigentlich, dass der Erstkontakt unangenehmer ausfallen wird, als sie sich das in ihren romantischen Wünschen ausmalenSie sollten auf ihre Ängste hören.
Ich
debattierte mit Douglas Preston über Fermis Frage. Doug schickte mir seine Antwort in Form eines Prosa-Gedichts, das er Tief im Wald nannte. Es würde dem ebenfalls in Maine lebenden Stephen King, dem Großmeister der Angst, sehr gefallen...




Tief im Wald

Das Weltall ist zu gewaltig als dass es
kein intelligentes Leben in ihm gibt.

Häufig oder selten
,

es ist da.
 
Ich zog durch die tiefen Wälder Maines,
durch dunkle Fichtenhaine.
Diese Wälder scheinen friedvoll zu sein,
still, leer und scheinbar leblos,
doch dort versteckt sich Leben,
Leben gegen Leben, gefangen im verzweifelten Kampf,
Natur mit rotem Schlund und wilden Klauen.
Diese Wälder sind nicht friedvoll.


© Daniel Gerritzen
Der Tod wartet überall
auf die unvorsichtige Maus,
auf die Schlange,
auf den Käfer,
auf das zitternde Rehkitz.
Diese Wälder sind trügerisch.

Während ich durch das Unterholz gehe,
senkt sich Schweigen über den Wald.
Die Maus zittert unter dem Laub,
der Salamander gräbt sich in den Moder,
die Schlange flieht durch das schweigende Gras.
Nur das übermütige Rebhuhn bricht aus der Kette aus
und stürzt, von Schrot getroffen,
gebrochen und blutend zu Boden.

Auch unser Weltall scheint friedvoll zu sein,
still, leer und scheinbar leblos.
Wir lauschen mit SETI, und wir hören nichts.
Laute Stille liegt über den tiefen Wäldern.
Wir sind das Rebhuhn,
das aus seiner Kette ausbricht.

Douglas Preston



Mein Dank gilt Douglas Preston. Copyright der deutschen Übersetzung:
Daniel Gerritzen

Montag, 9. Februar 2015

Die Angst vor dem Ende des Grübelns

25. Januar 1988. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe mir bei Kartoffelchips und Limo im ZDF einen Film mit dem Titel „Die Bombe” an (und versuche, die morgige Mathearbeit zu verdrängen). Michael Degen spielt hier einen Terroristen, der als stellvertretender Sicherheitschef eines Atomkraftwerks an spaltbares radioaktives Material gelangt ist und damit im heimischen Keller eine Atombombe gebaut hat. An einem Sonntagmorgen stellt er die selbstgebastelte Waffe auf dem Hamburger Rathausplatz auf und fordert, dass die illegale Herstellung und geheime Lagerung von Plutonium in „seinem” Atomkraftwerk durch die deutsche Bundesregierung sofort eingestellt wird.
Der Senat und die Sicherheitskräfte müssen sich eingestehen, dass sie hilflos sind gegenüber der raffinierten technischen Vorrichtung der Bombe, die von dem Täter in kurzen Abständen neu eingestellt werden muss, um nicht zu detonieren. Doch er lässt sich nicht von den fingierten Nachrichtenmeldungen beirren, die angeblich belegen, dass die Regierung seine Forderungen erfüllt. Fassungslos muss ich mit ansehen, dass es den Politikern und Sicherheitskräften nicht gelingt, die immer dramatischer werdende Situation zu lösen. Der Countdown läuft. Wird Hamburg dem Erdboden gleichgemacht? Geschieht das Unfassbare? Fest steht für mich beim Ansehen des Films, dass dieser Bombenbauer von Hamburg ein Terrorist ist, denn er stellt eine politische Forderung. 


Die Bombe von Lars Molin, 1982
© Rowohlt Verlag
Der Film des Regisseurs Christian Görlitz basiert auf dem Roman „Die Bombe” des inzwischen verstorbenen schwedischen Autors Lars Molin. In Molins Roman stellt ein ehemaliger Angestellter eines Atomkraftwerks die selbstgebaute Bombe in Stockholm auf. Was im Film nur angerissen wird, erhält im Buch eine viel tiefere Dimension: die Psyche des Täters. Im Buch rächt sich der Mann für eine gescheiterte Beziehung, für Mobbing durch seine Kollegen. So ist seine Tat nur die vermeintliche logische Konsequenz seiner Wut auf diejenigen, die ihn gedemütigt und geschmäht haben. Er ist ein Ausgestoßener. Er sucht sich sein zerstörerisches Ventil in Form der Bombe – je abstrakter die Tötungsform, umso geringer ist der Skrupel, die Waffe einzusetzen. Fest steht für mich nach der Lektüre des Romans, dass der Bombenbauer von Stockholm das Psychogramm eines Amokläufers aufweist, denn er rächt sich an seinen Peinigern. Angesichts der zwei unterschiedlichen Motive im Film und im Roman stellt sich nun jedoch die sehr spannende Frage, wie sich das Psychogramm eines Terroristen von dem eines Amokläufers unterscheidet. 

Der Begriff „Amok” leitet sich von dem malaiischen Wort „mengamuk” ab und bedeutet so viel wie „verrückt werden”. Psychologen vermuten, dass ein Amoklauf das Resultat einer sogenannten „dissoziativen Störung” sein könnte. Das Bewusstsein des Betroffenen spaltet – dissoziiert – sich von den Sinneseindrücken ab. Ein Beispiel: Das Bewusstsein eines Yogis auf dem Nagelbrett ist dissoziiert von seinen Empfindungen, denn sein Geist blendet den Schmerz aus. Aber auch das Bewusstsein eines Amokläufers ist dissoziiert, denn er hat in seiner Wut auf die Personen, die ihn gedemütigt haben, keinen Blick mehr für die tragischen Folgen seines Handelns. Er ist berauscht von der Macht der Waffen und der Angst seiner Opfer. Es entsteht in seinem Geist eine Art weißes Rauschen, das sich erst nach der Tat auflöst, so als ob er plötzlich einen Fernsehsender findet und ein klares Bild sieht. Wenn der Amokläufer das klare Bild – das von ihm angerichtete Blutbad – dann erkennt, stürzt die Realität auf ihn ein und er findet meistens keine andere Lösung, als sich selbst das Leben zu nehmen. Ich schreibe „der Amokläufer”, weil die Täter bis auf ganz wenige Ausnahmen männlichen Geschlechts sind.

Soziologische Studien belegen, dass „Amokläufer” meistens Außenseiter der Gesellschaft sind, die mit unterdrückten Aggressionen und einer verringerten Fähigkeit kämpfen, Konflikte friedlich zu lösen. Es mangelt ihnen meistens an Selbstbewusstsein, das nötig wäre, um sich gegen schwere Demütigungen zur Wehr zu setzen.
Üblicherweise geht im Gehirn des Amokläufers vor seiner Tat eine sehr lange und intensive Phase des Grübelns über die ihm widerfahrenen Demütigungen und Schmähungen voran.
Dieses Grübeln ist eine Form der Zwangsgedanken. Probleme und erfahrene emotionale Verletzungen werden immer wieder hin- und her gewälzt. Der potentielle Amokläufer sieht selbst nach Wochen oder Monaten des Grübelns über seine erlittenen emotionalen Verletzungen keine andere Lösung für das Problem, als den Tod der Personen, die ihm den Schmerz zugefügt haben. Nach dem Grübeln kommt die Phase des Planens. Der Täter kauft Waffen, Sprengstoff, tüftelt vielleicht Pläne aus, so viele Menschen wie möglich in den Tod zu reißen. Er plant einen Kampf gegen die personifizierten Demütigungen, nicht gegen Menschen. Die Menschen materialisieren sich erst in seinem Bewusstsein, wenn sie tot vor ihm liegen. Ein Amoklauf ist daher nie ein spontanes Ereignis – vielmehr plant der Täter sein Massaker äußerst minutiös, so wie Terroristen einen Anschlag.


Der Assassinen-Führer Hassan i-Sabah
© Public Domain
Ursprünglich ist der Amoklauf eine militärische Kriegstechnik. Malaiische Kämpfer versetzten sich vor dem Angriff in einen Drogenrausch und richteten dann durch ihr dissoziiertes Bewusstsein in den feindlichen Linien schreckliche Massaker an. Diese kriegerischen Amokläufer nahmen dabei ihren eigenen Tod in Kauf.
Die Akzeptanz des eigenen Todes durch einen Akt der mörderischen Raserei war auch im Mittelalter unter den Assassinen verbreitet. Die Assassinen waren eine Abspaltung von der islamischen Glaubensgemeinschaft der schiitischen Ismaeliten, die in Persien von der Burg Alamut aus unter der Führerschaft von Hassan i-Sabah (1034–1124 n. Chr.) und später in Syrien unter dem „Alten vom Berge”, Raschid ad-Din Sinan (1133–1192), politische Morde verübten. Dabei konsumierten die Mitglieder der Assassinen vor den Attentaten Drogen wie Haschisch, um ihr Bewusstsein von den Sinneseindrücken loszulösen. (Daher wahrscheinlich der Begriff „Assassine” als Synonym für einen „Meuchelmörder”, abgeleitet von „Hassasin” für „Haschisch-Esser”.) Auch die Assassinen nahmen ihren Tod in Kauf. Die ersten politischen Terroristen waren somit streng genommen Amokläufer, die durch Drogen ihre Angst vor dem Tod unterdrückten.


Amokläufer Seung-Hui Cho vor dem Massaker
am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg,
Virgina, 2007 © NBC News
Der Unterschied zwischen einem Amokläufer und einem Terroristen ist mithin eigentlich nicht existent, wie jüngst der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebo in Paris zeigt. Zwei mit automatischen Waffen ausgerüstete islamistische Terroristen stürmten am
7. Januar 2015 in die Büroräume der Zeitschrift und erschossen 12 Menschen. Die Tat gleicht von ihrem Hergang den Amokläufen wie etwa an der Columbine Highschool in Colorado im Jahre 1999 (13 Tote), am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im Jahre 2002 (15 Tote) oder am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg, Virginia, im Jahre 2007 (32 Tote). Allen Schulmassakern gemeinsam war, dass die Amokläufer glaubten, von ihren Mitschülern, Mitstudenten und vom Lehrpersonal schwer gedemütigt worden zu sein. Die Terroristen von Charlie Hebo fühlten sich ebenso gedemütigt: Sie sahen sich und den Islam durch die Karikaturen des Propheten Mohammed verletzt.


Der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard sprach im Angesicht der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center von einer neuen Qualität des Terrorismus. Die Qualität bestehe in der Asymmetrie. Mehrere Männer können Flugzeuge entführen und sie in neuralgisch bedeutende, „weiche Ziele” fliegen. Aus terroristischer Sicht waren die Anschläge vom 11. September 2001 demnach eine besonders zufriedenstellende Ausbeute in Bezug auf die Opferzahlen und den Symbolgehalt der Tat: Die Türme und damit auch die Macht der USA fielen, fast 3000 Menschen starben. Der Beginn eines Kampfes der Mächtigen gegen Terroristen begann, die unter uns „schlafen” und jederzeit „aktiviert” werden können wie Killerroboter.

Jean Baudrillard © Public Domain
In Der Geist des Terrorismus schreibt Jean Baudrillard: „[...] Es ersteht ein phantomhafter Feind, der sich über den ganzen Planeten ausbreitet, wie ein Virus überall einsickert und in sämtliche Ritzen der Macht dringt. Der Islam. Doch ist der Islam nur die bewegliche Front, an der dieser Antagonismus Gestalt annimmt. Dieser Antagonismus ist überall und er ist in jedem von uns. Terror gegen Terror also. Asymmetrischer Terror jedoch. Und es ist gerade diese Asymmetrie, die die weltweite Allmacht völlig wehrlos dastehen läßt. Mit sich selbst im Konflikt, kann sie sich nur auf ihre eigene Logik der Kräftebeziehungen einlassen, ohne auf dem Feld der symbolischen Herausforderung und des Todes mitspielen zu können, von denen sie keinerlei Vorstellung mehr hat, da sie diese aus ihrer eigenen Kultur gestrichen hat.”

Was passiert hier nach dem Massaker von Charlie Hebdo? Wir erleben im  Terrorismus eine Wiedergeburt der Mordphilosophien der Assassinen und der malaiischen Amokkämpfer. Die Drogen der Kämpfer zur Zeit des Mittelalters sind heutzutage einer politisierten Form des Amoklaufs gewichen. Terrororganisationen und extremistische Gruppen erhalten regen Zulauf von meist jungen Männern, die bisher im Leben versagt haben und als Individuen vor den Herausforderungen des Lebens resignieren. Sie suchen die Stärke der Gruppe und den Machtrausch durch Waffengewalt. (Ein Grund, warum das Nazi-Regime so mächtig werden konnte, ist die Tatsache, dass die Führungsriege um Adolf Hitler aus gesellschaftlichen Versagern bestand, die glaubten, von Juden zutiefst gedemütigt worden zu sein. Ihr Amoklauf bestand aus dem Holocaust.) Das Töten an sich ist die Droge und die Flucht aus der harschen Wirklichkeit. Ob nun Terrorist oder Amokläufer: ihnen gemeinsam ist die gesellschaftliche Demütigung.
Auf der weltpolitischen Bühne erleben wir daher gerade das Ende dieses tiefen Grübelns, das einem Amoklauf vorausgeht. 


Schwarzer Regen
von Karl Olsberg, 2009
© Aufbau Verlag
Ein großer Anschlag, der die Dimensionen des
11. Septembers 2001 weit in den Schatten stellt, wird wahrscheinlich jetzt in diesem Moment von Terroristen irgendwo im stillen Kämmerlein geplant. Die potentiellen Täter fühlen sich gedemütigt durch Kritik an ihrem kruden Weltbild oder Glaubenskonstrukt. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Mitglieder irgendeiner fanatischen Glaubensgemeinschaft oder unbelehrbaren politischen Gruppe eine Nuklearbombe in einer großen Stadt wie etwa Berlin, London oder New York zünden.
(Denken wir an den geistig verwirrten Attentäter Anders Breivik, der am
22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Ut
øya 77 Menschen ermordete, weil er sich durch den Islam bedroht und gedemütigt fühlte. Für ihn machten 77 oder 1 Millionen Tote keinen Unterschied mehr. Hätte er eine Nuklearbombe zur Verfügung gehabt – er hätte sie vermutlich gezündet.)
Die potentiellen Täter werden die Bombe nicht selbst bauen müssen, wie der Attentäter in Lars Molins „Die Bombe”. Denn Sprengköpfe aus den Beständen der ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte es inzwischen genug geben auf dem Schwarzmarkt, wie der Hamburger Autor Karl Olsberg in seinem schockierenden Thriller Schwarzer Regen anmahnt.


Zurück zum 25. Januar 1988. Die Chipstüte ist alle, meine Fingernägel müssen als Knabberartikel herhalten. Auch die Limonadenflasche ist leer. Der Countdown im Film „Die Bombe” ist inzwischen fast abgelaufen. Die Politiker fanden keine Lösung. Hamburg musste schnell evakuiert werden. Zu sehen sind noch einmal die Alster, der Michel, die leere Innenstadt, das Rathaus, der Hafen.
Drei, zwei, eins...
Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Abspann beginnt und ich hoffe, morgen wird es in der Schule viel zu diskutieren geben (das zumindest ist spannender als Mathe). Doch der Film geht eigentlich noch weiter. Man sieht, wie die Alster verdampft und Hamburg durch die Nuklearbombe dem Erdboden gleichgemacht wird. Die Folgen dieses unfassbaren Verbrechens wurden jedoch herausgeschnitten, weil das ZDF die Szenen vor dem Sendetermin als zu heftig empfand für die deutschen Zuschauer des gediegenen Abendprogramms.

Sollte das Szenario aus Lars Molins „Die Bombe” irgendwann
wirklich geschehen, wird kein Fernsehsender das Grauen herausschneiden können.

PS: „Die Bombe”
wurde übrigens nie wieder gesendet...

© Daniel Gerritzen

Mittwoch, 21. Januar 2015

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Am Freitag, den 5. Oktober 2007 sitze ich im Wohnzimmer und entspanne mich bei ein paar Takten Musik von einem harten Arbeitstag. Da es schon nach Mitternacht ist und ich meine Nachbarn nicht aus dem Bett holen will, dringen die schönen Melodiebögen und atemberaubenden Tempiwechsel meiner Lieblingsband RUSH nur mit sehr moderater Lautstärke aus den 100-Watt-Boxen meiner alten Stereoanlage. Tatsächlich ist die Musik recht leise. Um ehrlich zu sein, muss ich ständig dem starken Drang widerstehen aufzustehen und die Musik lauter zu stellen (was angesichts der Genialität der drei Kanadier, insbesondere des Schlagzeugers Neil Peart, nicht einfach ist).

Neil Peart 2011 © Daniel Gerritzen
Während ich also dem Song Subdivisions (vom Album „Signals”) lausche und mein Blick die Stereoanlage etwa zwei Meter fünfzig von mir entfernt streift, geschieht etwas sehr Unheimliches. In diesem Moment hämmert mein Herz wie wild los. Auf meinem gesamten Körper erscheint eine Gänsehaut. Ich sehe, dass sich der Lautstärkeregler aus unerfindlichen Gründen selbst dreht. Die Musik wird plötzlich lauter. Ich stürze zur Stereoanlage und halte den Knopf fest.
Was ich nun fühle, grenzt an Panik. Denn ich habe das Gefühl, dass jemand – oder etwas – gegen meine Kraftanstrengung den Lautstärkeregler aufdreht. Die Finger meiner Knöchel werden weiß, so sehr versuche ich, die Lautstärke leiser zu drehen. Doch vergeblich. Die Musik wird lauter und lauter.


Ich drücke dagegen. Ich höre das Summen des Drehmotors. Ich frage mich, was ich tun kann, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Strom, zuckt es durch mein Hirn. Ich wühle in der Verkabelung herum und reiße mit zitternden Fingern das Stromkabel aus der Anlage.
Die Musik verstummt jäh. Ich atme aus. Stille. Mein Herz pocht bis zum Hals. Für einen Moment stehe ich entsetzt vor der Anlage, um dann verstört meine rechte Hand von der warmen Metalloberfläche zu lösen.
„What the fuck...?”, rufe ich. 


Ich blicke mich um. Außer mir ist niemand im Wohnzimmer oder in der Wohnung. Ich frage mich, was möglicherweise diese vermeintliche Fehlfunktion ausgelöst haben könnte. Meine erste Theorie ist, dass sich die Gummiknöpfe der Fernbedienung, die auf dem Tisch vor mir liegt, irgendwie verhakt haben könnten, so dass der Knopf für die Lautstärke den Befehl für „Lauter” zur Anlage funkte. Ich untersuche die Fernbedienung. Aber zu meiner wachsenden Beunruhigung sehe ich, dass mit der Fernbedienung alles in Ordnung ist. Kein Knopf hakt oder ist verklemmt. Außerdem habe ich die Lautstärke in der letzten Stunde nicht verändert. Warum sollte dann ausgerechnet jetzt ein verhakter Knopf den Befehl für „Lauter” gesendet haben? 

Diese Theorie kann ich verwerfen. Dann erinnere ich mich. Im Oktober 2003 hatte ich ein ähnliches Erlebnis bei Umzugsvorbereitungen gehabt. Auch damals war ich allein in meiner Wohnung gewesen, umgeben von Umzugskartons. Damals hatte sich die Stereoanlage von selbst eingeschaltet (sie ist definitiv nicht programmierbar). Anschließend hatte sich der Lautstärkeregler ohne erkennbare Ursache lauter gedreht – und mir einen Riesenschrecken eingejagt. Was ich damals als Fehlfunktion eingestuft hatte, stellt sich jetzt als wiederkehrendes Phänomen heraus. Zwischen beiden Ereignissen liegen vier Jahre. Vier Jahre, in denen sich nichts Unheimliches dieser Kategorie ereignet hatte.


Das IGPP in der Wilhelmstraße in Freiburg i.Br.
© Public Domain
Abgesehen von diesen Begebenheiten (und den mysteriösen Umständen vom 6.6.2006) habe ich bis heute, Stand: März 2015, keinerlei außergewöhnliche Erfahrungen mehr gemacht. Meine Stereoanlage arbeitet bis heute fehlerfrei (wie man es von japanischer Technik erwarten kann). Nach den Erlebnissen der vergangenen Jahre frage ich mich heute, ob ich allein bin. Meine Recherche förderte Erstaunliches zutage: So kommt eine empirische Studie des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg i. Br. aus dem Jahr 2002 auf der Basis einer repräsentativen Umfrage unter 1510 Personen zu dem Schluss, dass derartige Phänomene alltäglich und weit verbreitet sind in der deutschen Bevölkerung. Mehr als 50 Prozent der Befragten berichteten, dass sie einmal Phänomene wie Vorahnungen oder Wahrträume am eigenen Leib erfahren hätten. Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Erfahrung außergewöhnlicher Erlebnisse mit dem Alter anscheinend abnimmt. Je jünger Menschen sind, umso häufiger machen sie diese Erfahrungen. Dabei sind die Erlebnisse unabhängig vom Bildungsgrad, der Herkunft, dem Geschlecht oder etwa der Religion.

Fazit: Anomalistische Phänomene sind real existent. Laut Studie des IGPP treten diese Ereignisse stets spontan auf. Die mangelnde wissenschaftliche Reproduzierbarkeit ist auf den ersten Blick der Grund, warum die akademische Welt – abgesehen von den wenigen mutigen Psychologen und Soziologen – diese Erfahrungen nicht weiter erforscht. Der wahre Grund jedoch ist die Angst vieler Wissenschaftler vor dem absoluten Kontrollverlust. Kontrollverlust deshalb, weil Träume, die plötzlich wahr werden oder Stereoanlagen, die grundlos lauter werden, nicht erklärbar sind. Die Nichterklärbarkeit würde die Kompetenz und den Erfahrungshorizont der Wissenschaftler auf sehr harsche Weise an ihre Grenzen stoßen lassen. Die Folge wäre das Eingeständnis der Hilflosigkeit gegenüber diesen Phänomenen, die die experimentelle Parapyschologie in zwei Kategorien unterteilt: 


1. den kognitiven Aspekt, der die mentalen Prozesse im Gehirn des Menschen betrifft und etwa Telepathie, Fernwahrnehmung oder Wahrträume umfasst und 

2. den motorischen Aspekt, d.h. die Frage, ob Menschen mit der Kraft ihrer Gedanken Materie beeinflussen können (Psychokinese). 

Dabei könnte es eine natürliche Erklärung für das merkwürdige Verhalten meiner Stereoanlage geben. Starke Temperaturschwankungen innerhalb der Transistoren hätten dafür sorgen können, dass die Stereoanlage lauter wurde. Jemand hätte sich mit einer Infrarotfernbedienung, die Befehle auf einer identischen Frequenz sendet, im Wohnzimmer meiner Wohnung verstecken können, um mich zu erschrecken. Ein Spannungsschock, ausgelöst durch den Einschlag eines Blitzes, hätte die Anlage lauter werden lassen können. Oder eine Oxidation der Kontakte hätte den Ein-Aus-Schalter bzw. den Lautstärkerregler verrückt spielen lassen können.
Aber: Die Anlage war keiner starken Temperaturschwankung ausgesetzt. Ich war eindeutig allein in meiner Wohnung. Auch ein Blitzeinschlag hätte nicht nur die Stereoanlage zerstört, sondern vielleicht sogar meine Wohnung in Brand gesetzt. Selbst eine Oxidation der Kontakte für den Ein-Aus-Schalter bzw. des Lautstärkerreglers scheidet aus, denn die Anlage wurde in Japan aus rostfreien elektronischen Komponenten konstruiert. Und japanische Techniker machen äußerst selten Fehler.


William von Ockham
© Public Domain
Das auf den angelsächsischen Franziskanermönch William von Ockham (1288–1347) zurückgehende „Rasiermesser” besagt, dass a) von mehreren Erklärungsmöglichkeiten die einfachste zu bevorzugen ist und b) eine Theorie zur Erklärung eines Ereignisses so wenig wie möglich logische Brüche und Widersprüche enthalten darf. So war die einfachste Erklärung für Ockham immer die richtige. In anderen Worten: Es ist wahrscheinlicher, dass ein übermüdeter Ingenieur einen Putzlappen in einer sensiblen Stelle der Treibstofftanks des Space Shuttle Challenger vergaß, als dass libysische Terroristen im Auftrag von Muhammar al-Gaddafi die Raumfähre zur Explosion brachten. Warum? Weil es mit weniger kausalem Aufwand verbunden ist, einen Putzlappen zu vergessen, als eine Verschwörung libyscher Terroristen zu bemühen, deren Ziel es war, das Space Shuttle kurz nach dem Start am 28. Januar 1986 in die Luft zu sprengen.

Doch bei mindestens einem weiteren Fall versagt Ockhams Rasiermesser ebenso. Michael Shermer, ein experimenteller Psychologe an der Claremont University in Kalifornien und Gründer der Zeitschrift Skeptic, scheint etwas Ähnliches erlebt zu haben wie ich. Normalerweise ist der bekennende Atheist und gnadenlose Skeptiker bekannt dafür, alle anomalistischen Ereignisse, die von Menschen in aller Welt berichtet werden, mit Hilfe des rationalen Verstands und Ockhams Rasiermesser zu erklären. In seiner Kolumne für das angesehene Wissenschaftsmagazin Scientific American berichtete Shermer, dass seine aus Köln stammende Ehefrau Jennifer, die er im Juni 2014 heiratete, bei ihrem Einzug in Beverly Hills ein altes Radio von ihrem Großvater mitbrachte. Mehrere Versuche Shermers, das Radio mit neuen Batterien oder durch eine Reparatur in Betrieb zu nehmen, schlugen fehl. Seines Erachtens war es eindeutig defekt. Selbst „Draufhauen” half nicht mehr, um irgendwelche Wackelkontakte kurzzeitig wieder zu schließen, wie er in seinem Artikel ausführt. So steckten die Shermers das Radio in den hinteren Winkel der Schublade ihres Schreibtisches im Schlafzimmer. Entsorgen wollten sie es nicht, da das Radio einen zu hohen ideellen Wert für Jennifer Shermer hatte. 


Michael Shermer © Public Domain
Das Unerklärliche geschah drei Monate später, als Jennifer Shermer ihrem Mann gerade beichtete, dass sie ihre deutschen Freunde und ihren Großvater vermisse. In diesem Moment erklang Musik aus einem hinteren Teil des Hauses, genauer, dem Schlafzimmer. Nachdem die Shermers ihre I-Phones, Notebooks und sogar den Drucker auf dem Schreibtisch kontrollierten, mussten sie feststellen, dass die Musik von dem defekten Radio ausging. Es funktionierte plötzlich wieder. Es spielte einige Stunden – seitdem schweigt es.

Die Erklärung nach Ockhams Rasiermesser würde lauten, dass sich irgendein Kontakt kurzzeitig geschlossen hatte, sodass das Radio wieder funktionierte. Oder Michael Shermer hat den Vorfall von langer Hand geplant, um irgendwann sein erzkonservatives Skeptikertum ablegen zu können. Dagegen spricht natürlich, dass sich Michael Shermer mit seinem Eingeständnis, Zeuge eines solch unerklärlichen Vorfalls geworden zu sein, öffentlich lächerlich machen würde.

Doch das Gegenteil ist nun der Fall: Das Ereignis hat Michael Shermers skeptische Sichtweise so sehr verändert, dass er nun für eine agnostische Sicht auf unerklärliche Ereignisse plädiert. Der naturwissenschaftliche Geist, so Shermer, müsse offen sein für das Rätselhafte und Unerklärliche.


Es gibt keinen Beweis dafür, dass Shermers Ereignis stattgefunden hat, nur zwei Zeugenaussagen. Aber ich glaube Michael Shermer, weil ich Ähnliches erlebt habe. Andererseits denke ich nicht, dass der Shermer-Vorfall irgendetwas mit dem Jenseits und Jennifer Shermers Großvater zu tun hatte, sondern vielmehr – wenn sich keine natürliche Erklärung ergibt – mit psychischer Externalisierung von Stress. Im Falle von Michael Shermers Frau Jennifer ist das Stressmoment klar benannt: sie vermisste ihren Großvater und hatte starkes Heimweh nach Deutschland. Somit war es kein übernatürliches, sondern vielleicht ein parapsychologisches motorisches Ereignis der Kategorie 2 (Psychokinese). Aber das ist Spekulation. Es bleibt ein anomalistisches Ereignis. Es ist nicht erklärbar – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Charles Fort © Public Domain
Der amerikanische Schriftsteller und Sammler von unerklärlichen Vorfällen, Charles Fort, bezeichnete diese Phänomene in seinem 1932 erschienenen gleichnamigen Klassiker schlicht als Wilde Talente. Meine Erlebnisse gehören, wie Shermers Erlebnisse, in die Kategorie 2 – und bislang habe auch ich keine Erklärung dafür. Habe ich ein „wildes Talent”? Haben die Shermers ein „wildes Talent”?

Ich glaube nicht. Und dennoch ist da etwas, das sich meinem und Michael Shermers Wahrnehmungshorizont entzieht. Wie Shermer, so bin auch ich nun offen für das Rätselhafte (Schriftsteller leben davon...), behalte mir jedoch meine Skepsis und die Möglichkeit einer orthodoxen Erklärung vor. Ich habe keine Angst vor dem Kontrollverlust.

© Daniel Gerritzen

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Reportage: Die Angst vor der Bombe


Atomexplosion in Nevada © Public Domain
25 Jahre nach dem Ende des kalten Krieges lagern immer noch amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden. Doch die deutsche Bevölkerung weiß nicht mit Sicherheit, wo sie lagern. Ein heißer Kandidat ist der Fliegerhorst Büchel in der Eifel. Ich frage daher per E-mail bei der Bundeswehr an. Etwa eine Woche später bekomme ich einen Anruf von einem Presseoffizier der Luftwaffe in Köln-Wahn.
„Ich weiß ja, worauf Ihre Frage hinausläuft.”, sagt er.
„Ach ja?”, frage ich und kann meine Belustigung kaum verbergen. „Worauf läuft denn meine Frage hinaus?”
Eine direkte Antwort des Presseoffiziers erhalte ich nicht. Stattdessen sagt er: „Warum wollen Sie denn den Fliegerhorst Büchel überhaupt besichtigen? Sie können auch jeden anderen Fliegerhorst an einem Tag der offenen Tür besuchen.”
„Aber ich will Büchel sehen. Ich will wissen, wie es dort aussieht. Ich will einen Tornado starten sehen”, beharre ich. „Haben Sie dort keinen Tag der offenen Tür?”
Schweigen. Dann sagt er: „Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.”
Der Presseoffizier vertröstet mich mit Broschüren der Luftwaffe, die er mir zuschicken will. Damit beendet er das Gespräch höflich – aber bestimmt.

Die Bundeswehr schweigt also und veröffentlicht keine Informationen darüber,
1) ob und 2) wo amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden lagern. Der Presseoffizier hat mit der Geheimniskrämerei meinen journalistischen Ehrgeiz entfacht. Wenn mir die Bundeswehr keine Informationen mitteilt, muss ich eben von Außen nach Innen recherchieren, so wie ich es gelernt habe. Ich folgere:  Präsident Obama müsste ein großes Interesse daran haben, die Atomwaffen aus Europa abzuziehen, denn er hat sich in Berlin zur Abrüstung aller Nuklearwaffen bekannt. Er wird darüber wahrscheinlich mit Kanzlerin Merkel gesprochen haben. Daher schaue ich in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Was weiß unsere Regierung über Nuklearwaffen?
Ich lade den Koalitionsvertrag als PDF herunter. Auf Seite 118 steht wörtlich: „Erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Atomwaffen.”

Hier finde ich also die Antwort auf die Frage 1): Der Koalitionsvertrag bestätigt, dass auf deutschem Boden Nuklearwaffen lagern. Ich sehe mir ältere Koalitionsverträge an. Auch sie bestätigen die Lagerung von Atomwaffen auf deutschem Boden und das Bemühen, diese abzuziehen. So zum Beispiel die Koalitionsverträge zwischen der SPD und den Grünen in den Jahren 1998 und 2002. Meine Recherchen ergeben, dass von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder/Joschka Fischer seltsamerweise auch keine Anstrengungen unternommen wurden, die Atomwaffen aus Deutschland zu verbannen.
Ich recherchiere weiter – und stoße auf Frau P.. Gelegentlich dringt die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden durch ihre Aktivitäten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Frau P. ist promovierte Pharmazeutin und wohnt in dem kleinen Ort Leienkaul in der Eifel. Kurz entschlossen setze ich mich mit ihr telefonisch in Verbindung und vereinbare einen Termin. Vielleicht finde ich eine Antwort auf die Frage, wo sich die Atombomben in Deutschland befinden.

Leienkaul

„Ich hatte Angst, die zünden mir vor lauter Wut mein Haus an.”, erzählt sie mir.
Frau P. ist über siebzig, fährt aber immer noch regelmäßig mit ihrem Freund in den Ski-Urlaub. Die Frau mit den ergrauten Locken und der gesunden Gesichtsröte ist mit einem hellen Norweger-Pullover und einer Blue-Jeans gekleidet und wirkt körperlich fit. Sie wirkt nicht so, als ob sie sich leicht einschüchtern ließe. Von der Terrasse ihres Hauses streift ihr Blick über die liebliche, hügelige Landschaft der Eifel. Sie erinnert sich. Wenn Frau P. mit Flugblättern von Haus zu Haus zog, um die Menschen über die letzten Atombomben in Deutschland aufzuklären, seien die Leute mit Heckenscheren oder Spaten auf sie losgegangen. Sie lacht. „Aber ich konnte immer ausweichen. Ich habe nie provoziert und habe mich dann immer schnell verzogen.”
So habe es lange gedauert, bis die Leute in der Gegend überhaupt verstanden hätten, mit welcher Gefahr sie täglich lebten. So erging es auch Frau P. anfänglich. „Wir haben das Haus 1980 gekauft. Erst 1996 habe ich von diesen Atomwaffen erfahren. Sechzehn Jahre habe ich hier gelebt, ohne zu wissen, was sich da drüben abspielt.”


Mit „da drüben” meint Frau P. den Fliegerhorst Büchel, auf dem vier Kilometer von ihrem Haus entfernt seit dem Jahr 1965 im Rahmen der sogenannten „Nuklearen Teilhabe” der NATO Atomwaffen vom Typ B-61 lagern, wie sie glaubt. Frau P. war zunächst allein mit ihrer Meinung. Viele Bewohner der Ortsgemeinden sehen den Fliegerhorst Büchel als Wirtschaftsstandort durch die Friedensdemonstrationen gefährdet, die Frau P. zusammen mit einem evangelischen Pfarrer organisiert. Die Behauptung, der Flugplatz werde nach einem Abzug der Bomben geschlossen, sei ein Gerücht, das an den Stammtischen geschürt würde, so Frau P.. Als in der Ferne das dumpfe Grollen von Tornado-Kampfbombern anschwillt, um Sekunden später wieder abzuebben, schüttelt sie den Kopf. „Ich kann keine Garantie geben, dass der Fliegerhorst bis 2090 hier sein wird. Aber auf jeden Fall verschwindet er nicht in dem Moment, in dem die Bomben abgezogen werden.”


B61-Nuklearbomben © Public Domain
Ich erinnere mich jetzt an eine Pressemeldung vom Juli 2014. Die Bundesregierung hat den Plänen des amerikanischen Verteidigungsministeriums zugestimmt, die Atombomben zu modernisieren und durch eine neue Generation von Nuklearwaffen zu ersetzen. Diese Bomben vom Typ B-61-3 und B-61-4 haben eine variabel einstellbare Sprengkraft von 0,3 bis zu 50 Kilotonnen, also das Dreizehnfache der Hiroshima-Bombe. Der Feuerball einer solchen 50 Kilotonnen-Bombe, am Brandenburger Tor gezündet, würde etwa 350 Meter messen. Innerhalb eines Radius von 0,8 Kilometern würden alle Gebäude aus Beton eingeäschert. Nichts würde in diesem Gebiet mehr stehen. Sterblichkeitsrate: 100%. Berlin gliche zwischen Tiergarten und Berlin-Mitte einer Trümmerwüste. Die Strahlendosis würde bis zu einem Radius von 1,64 Kilometern etwa 500 rem betragen – etwa 50% bis 90% der Menschen in diesem Bereich sterben. Die Schockwelle des Luftdrucks würde 1,8 Kilometer weit reichen. Die Zerstörung nähme vom Zentrum der Detonation zum Ende der Druckwelle proportional ab. Doch selbst an den Ausläufern der Rathenaustraße im Nordwesten und der Oranienstraße im Südosten wären die Schäden an den Gebäuden katastrophal. Über 2,8 Kilometer hinweg würde die Hitze Verbrennungen dritten Grades auf der menschlichen Haut verursachen. Die Detonation einer B61-Bombe in Berlin würde also innerhalb weniger Stunden über eine Millionen Menschen töten. Der radioaktive Fallout würde nach der Explosion den Himmel über der Hauptstadt verdunkeln und großflächig verseuchen. Ein Alptraum.

Frau P. zeigt den Stützpunkt auf einer Landkarte, dort, wo der potentielle Auslöser dieses Alptraums liegt. Im Süden, Richtung Gevenich, vermutet sie die Atomwaffen, denn dort beginnt die Startbahn. Im Ernstfall könnten die Tornados innerhalb weniger Minuten mit den Atombomben bestückt werden. Doch das macht jedoch taktisch betrachtet wenig Sinn: Im Ernstfall könnten die Tornados über deutschem Boden von feindlichen Kräften abgeschossen werden, sodass die Bomben nicht auf Feindesland detonieren, sondern beispielsweise die Gegend um Berlin einäschern. Der Feind ist für die NATO seit der russischen Invasion auf der Krim und dem Krieg in der Urkaine verstärkt im Osten zu suchen, doch ist die Reichweite der Tornados auf die ostdeutsche Grenze beschränkt. Zur Zeit des kalten Krieges sollten russische Truppen auf DDR-Boden mit diesen Atombomben aufgehalten werden.

Wer Deutschland plattmachen wolle, meint Frau P., der brauche nur Büchel anzugreifen. Sie erwähnt die Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler FAS und den Abrüstungsexperten Hans Kristensen, der im Juni 2008 nach einem Bericht der US Air Force auf die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen in Büchel hinwies. Aber auch das scheint niemanden zu interessieren. Von Gerichten ganz zu schweigen: Frau P. zog vor das Oberverwaltungsgericht in Münster, um den Abzug der Atomwaffen einzuklagen. Doch ihre Klage wurde abgewiesen. Frau P. lässt sich jedoch nicht beirren. Ihr Klageantrag gegen die Bundesrepublik Deutschland liegt dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor. Ausgang offen, Hoffnung gegen Null. Daher bleiben die Bomben – und die Gefahr.

„Eine Gefahr besteht immer, wenn die Bomben zur Wartung aus den sogenannten Grüften hochgefahren werden”, erzählt Frau P.. Ihr Blick verrät Unbehagen. „Das passiert öfter als zweimal im Jahr.”
Es wäre der richtige Moment für Terroristen, um sich die Atombomben mit Waffengewalt anzueignen. Die Luftwaffensicherungsstaffel Sonderwaffen, die rund um die Uhr in drei Schichten Dienst führt, bewacht zusammen mit amerikanischen Soldaten des 702. Munition Support Squadron (MUNSS) die Lagerungsgrüfte vor Terrorangriffen und sonstigen möglichen Zwischenfällen. „Da sind acht Grüfte, in denen jeweils vier Sprengköpfe lagern. Theoretisch kann man zweiunddreißig Waffen lagern.”, sagt sie. Vermutlich sind es zwanzig Atomwaffen, wie Hans Kristensen von der FAS vermutet.


Demonstration am Fliegerhorst Büchel
im Jahr 2008 © Public Domain
Frau P. und ihre Mitstreiter von der Friedensbewegung glauben, dass die Lagerung der Bomben nicht ohne Folgen für die Umwelt sei. Sie führt eine Liste mit verstorbenen Angehörigen des damaligen Jagdbombergeschwaders 33. „Wir haben vermutet, dass einige von denen verstrahlt worden sind und dass es unter ihnen eine hohe Krebsrate gab.” Ein an Krebs erkrankter Wachmann sei an sie herangetreten. „Der sagte mir, da sind so viele krebskrank geworden, dass könne doch nicht mit rechten Dingen zugehen.” Schilddrüsenkrebs, Lungenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs – alles sei dabei gewesen. Das Gesicht von Frau P. ist wie versteinert, als sie sagt: „Jetzt sind die praktisch alle tot von dieser Schicht. Eine Schicht sind vierzig Leute.”
Aber das werde hier in der Gegend verdrängt. Wahrgenommen würden nur die Demonstrationen und die Tatsache, dass im September 2008 mehr als 4500 Polizisten und Soldaten auf 2000 friedliche Demonstranten angesetzt waren. Ein kostspieliger Sicherheitsaufwand, der unter den Menschen in der Region Verärgerung erzeuge.

Cochem
Das glaubt auch Herr Z.. Ich treffe mich mit ihm in einem Café in der Cochemer Altstadt. Der freie Journalist hat Verständnis für die Friedensaktivitäten von Frau P., aber auch für die Sorgen der Bevölkerung, die das Taktische Lutwaffengeschwader 33 des Fliegerhorstes Büchel als Hauptarbeitgeber betrachtet. Herr Z., ein großer, untersetzter Mann Anfang vierzig und zurückweichendem, kurzem Haar, zeigt auf die andere Seite der Mosel. „Sehen sie das? Hotels, Hotels, Hotels. Im Winter sind fast alle geschlossen. Außer Tourismus geht hier so gut wie nichts. Da ist die Bundeswehr mit Abstand einer der größten Arbeitgeber in der Region.” Um uns herum sind die Tische mit Dutzenden von niederländischen Touristen besetzt.

Das Taktische Lutwaffengeschwader 33 bestimmt die journalistische Arbeit von Herrn Z. mehr als alle anderen Themen. Doch sowohl die Bundeswehr als auch die Friedensbewegung seien schwer zufrieden zu stellen. „Die Bundeswehr ist auch nicht begeistert, dass ich andauernd über die in der Zeitung schreibe”, schmunzelt Herr Z. und schlürft seinen Kaffee. „Meistens habe ich über sie bei einem Kommandeurswechsel berichtet. Bei den Bundeswehrleuten habe ich das Gefühl, dass sie denken, ich horche sie aus.”
Herr Z. wird regelmäßig mit Vorwürfen des Taktischen Lutwaffengeschwaders 33 konfrontiert, zu oft für die Friedensbewegung zu schreiben. „Zur Vierzig-Jahr-Feier des Bombergeschwaders habe ich darüber berichtet. Da kam ein Dankesschreiben vom Kommodore, wie toll mein Bericht war. Zwei Wochen später habe ich über die Friedensbewegung geschrieben. Da kam dann vom selben Kommodore ein Anruf beim Chefredakteur, warum wir der Friedensbewegung so großen Platz einräumen.”

Für Herrn Z. ist offensichtlich, dass auf dem Fliegerhorst Atomwaffen lagern. Als der neue Tower des Fliegerhorstes eingeweiht wurde, schickte die Redaktion seiner Zeitung Herrn Z. für einen Bericht dorthin. Ein schelmisches Grinsen huscht über sein Gesicht. „Dann war ich mit dem Presseoffizier oben im Tower und ich fragte ihn, ob ich Bilder machen dürfe von einem startenden Tornado. Der Offizier gestattete das. Als ich die Kamera rüberschwenkte, sagte der Offizier ‚da net hin’. Als ich fragte, warum nicht, bekam ich die Antwort: ‚Weißt du doch. Da lagern die Dinger.’”
Für Herrn Z. klingen die Erklärungen der Friedensbewegung, welche Gefahren die Bomben bergen, plausibler als die Beschwörungen der Bundesregierung, die nukleare Teilhabe zum Schutz des Landes aufrecht zu erhalten. Die Indizien sprächen eindeutig für Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel. Wie Frau P. in Leienkaul, so ist sich hier auch Herr Z. sicher.

Höchstberg
Doch das sieht Frau M. in der Ortsgemeinde Höchstberg, etwa sieben Kilometer vom Fliegerhorst entfernt, etwas anders. „Ob die Bomben da liegen, ich weiß es nicht”, sagt sie. „Man hört es dann immer wieder verstärkt, wenn die Demonstrationen stattfinden, die hier aber im Prinzip auf gar kein Interesse stoßen.”
Frau M., über fünfzig, verheiratet, ist Mutter von zwei Kindern im Teenageralter, studierte Naturwissenschaftlerin, jetzt Besitzerin eines Buchladens. Die Angst vor allem Neuen und Fremden sei in der Eifel vorherrschend, berichtet sie. Das ist eine Beobachtung, die ich während meiner Recherchen in der Eifel ebenso gemacht habe. Niemals zuvor bin ich auf eine größere Wand der Ablehnung und des Schweigens gestoßen. Auf zehn Anfragen kam nur eine Zusage. Die abwehrende Reaktion der Menschen auf die Friedensdemonstrationen ordnet Frau M. so ein, dass man Angst habe, den Arbeitsplatz zu verlieren, wenn der Stützpunkt durch den Abzug der Atomwaffen geschlossen werde könnte.

In der Küche streiten sich ihre Kinder, und Frau M. hat Mühe, dagegen anzusprechen. „Mein Bruder arbeitet auf dem Fliegerhorst im Wachdienst. Mein Schwager ist Installateur und macht dort die Wasserwartung.”
Einer ihrer Neffen sei auf dem Fliegerhorst zum Flugzeugmechaniker ausgebildet worden. Sie habe viele Bekannte, die dort bei der Feuerwehr arbeiten oder gearbeitet haben. Auch kenne sie Soldaten, die dort ihren Dienst verrichten. Und die Bomben? Es interessiere die Beschäftigten auf dem Fliegerhorst und auch die Menschen der Region nicht, ob „dort oben” Nuklearbomben lagern. Ganz im Gegenteil wäre die Idee, dass der Fliegerhorst geschlossen werden könnte, ein Schreckgespenst, so Frau M.. So nah die Bomben faktisch auch sein mögen – zu abstrakt sei die mögliche Bedrohung.

Alflen
Auch für Herrn T. ist die Vorstellung beunruhigend, dass das Taktische Lutwaffengeschwader 33 abgezogen werden könnte. Herr T. ist in der Gemeinde des verschlafenen Dorfs Alflen tätig, das nur einige hundert Meter von der Startbahn des Fliegerhorstes entfernt liegt. Als ich durch Alflen fahre, bemerke ich, dass die Rasen und Hecken in den Vorgärten akkurat gestutzt sind. Das Kaminholz ist ordentlich gestapelt. Kein Dreck liegt auf der Straße. Es gibt einen Tante-Emma-Laden mit Getränkemarkt, eine Bäckerei, eine Metzgerei, einen Friseur. Nur jede Stunde fährt ein Bus. Herr T. hat jahrelang im Motorenbereich gearbeitet und ist jetzt in Rente. „Der Fliegerhorst ist natürlich der größte Arbeitgeber hier in unserer Region und den wollen wir uns auch erhalten”, betont der besonnen wirkende Mann mit tiefer Stimme. „Ansonsten haben wir keine großen Betriebe.”

Sehr eng sei die Zusammenarbeit der Ortsgemeinde mit dem Taktischen Lutwaffengeschwader 33. Die Feuerwehr sei auf dem Fliegerhorst natürlich ein großer Arbeitgeberfaktor. Einige Bürger Alflens seien bei der Hundeschutzstaffel, als Flugzeugmechaniker, Elektriker, Dachdecker, Schlosser tätig. Undenkbar, dass der Fliegerhorst geschlossen werden könnte. „Das wäre für uns hier, nicht nur für Alflen, für die ganze Region, für den Kreis Cochem-Zell, schon ein Einbruch”, brummt Herr T.. Er schiebt sich die randlose Brille auf die Nase zurück und lehnt sich vor. „Wie will man das industriell oder sonst wie wettmachen?”

Die Friedensdemonstrationen sind ein heißes Eisen für Herrn T. Er sagt: „Wer ist für Atombomben? Im Prinzip keiner. Wenn die Bomben an Ort und Stelle verschrottet würden, dann würde jeder Bewohner von Alflen dafür sein.”
Aber wenn die Bomben nur verlagert würden Richtung Osten oder in die Türkei, dann seien die Waffen immer noch nicht verschwunden und wären immer noch zum Einsatz bereit. Ob eine Bombe nun hier in Alflen liege oder 1000 Kilometer weiter weg, die Gefahr sei dann nach wie vor da. Wenn die Bomben verschwänden, dann wäre der strategische Nutzen des Fliegerhorstes in Frage gestellt – und daher bald verschwunden.
„Ganz offiziell wird es ja nicht zugegeben”, fügt Herr T. augenzwinkernd hinzu. „Wir gehen schon davon aus, dass da oben was ist. Aber gesehen hat die Bomben noch keiner. Von uns zumindest nicht.”

Ulmen
Für Pfarrer B., Mitte fünfzig, ist die Frage, ob auf dem Fliegerhorst Büchel Atombomben lagern, zweitrangig. Pfarrer B. glaubt, dass die Menschen die direkten Auswirkungen des Fliegerhorstes und der Bomben auf tragische Weise am eigenen Leib spüren. Er kann das bestens beurteilen, denn er ist auch Seelsorger der Region. Im Büro des schütteren, in schwarzem Anzug und weißem Römerkragen gekleideten Mannes stehen Bücherregale mit theologischen Werken. In der Luft schwebt das süßliche Aroma von Pfeifenrauch. Er strahlt eine besonnene Ruhe aus. „Ich versuche, den Menschen die Freude am Leben näherzubringen. Und auch, letztendlich den Sinn des Lebens zu finden”, sagt Pfarrer B. schmunzelnd.

Diese Arbeit erweist sich für ihn jedoch als schwierig. In den Jahren, in denen er als Pfarrer in der Gemeinde tätig ist, beklagte er zehn Selbstmorde von jungen Menschen im Alter von 14 bis 30 Jahren. Die Perspektivenlosigkeit der Region scheint sich dramatisch auf das Gemüt junger Menschen niederzuschlagen. Schiere Existenzangst, glaubt er. Hinzu komme eine alarmierende Häufung von Krebsfällen in Ulmen, Alflen und Umgebung. Allein im Jahr 2007 musste Pfarrer B. drei Mitglieder der Wachmannschaft des Fliegerhorstes beerdigen, die an Krebs verstarben. Seine Stimme senkt sich beinahe zu einem Flüstern. „Ich weiß, dass es hier in der Region und in den Jahren, in denen ich hier bin, sehr viele Todesfälle gab, die mit Krebs zu tun hatten.”
Immer wieder entstehen Pausen, in denen Pfarrer B. nach Worten sucht. „Das ist eigentlich die Mehrheit der Fälle”, sagt er. „Auch im hohen Alter noch. Aber es sind auch sehr viele junge Menschen, die an Krebs sterben.” Er betont, dass das seine ganz subjektive Meinung sei. Ich spüre seine Angst.

Pfarrer B. zündet seine Pfeife an und denkt nach. Die meisten Leute, die hier gestorben sind, hätten einen Arbeitsplatz am Stützpunkt gehabt, bestätigt er. Diese Beobachtung deckt sich mit der Aussage von Frau P. in Leienkaul. Viele Soldaten im Ruhestand seien an Krebs verstorben – Pfarrer B. sieht einen direkten Zusammenhang. „Zwei Drittel der Todesfälle, die ich habe, sind Krebserkrankungen. Es sind auch sehr viele Fälle von Menschen, die erkrankt aber noch nicht verstorben sind.” Der Anteil sei relativ hoch. Aber leider habe er dafür keine wissenschaftlichen Belege. Bislang hat diese Tatsache aber keinen Reporter irgendeiner Zeitung oder eines Fernsehmagazins interessiert. Vielleicht aus Unkenntnis, vielleicht aus Angst vor Repressalien.

Büchel
Ich parke in sicherer Entfernung zum Fliegerhorst und blicke durch mein Teleobjektiv. „Militärischer Sicherheitsbereich. Vorsicht Schusswaffengebrauch!”, schreit ein Schild am Zaun des Fliegerhorstes. Es ist Montag Morgen. 6:30 Uhr. Wachwechsel für die Soldaten des 702. Munition Support Squadron, der einzigen Spezialeinheit für Atomwaffen, die in Deutschland stationiert ist. Offiziell gibt es die 702. MUNSS hier nicht. Stars and Stripes flattern im Wind neben der deutschen Fahne. Untrügliches Zeichen amerikanischer Präsenz. Das Kreischen eines startenden Düsentriebwerks zerreißt plötzlich die morgendliche Stille. Ich blicke eingeschüchtert in den Himmel.


Tornado-Kampfbomber der Bundeswehr © Public Domain
Ein Tornado-Kampfbomber hebt zum Übungsflug ab. Unter seinen Tragflächen sind neben den Tanks längliche Attrappen der B61-Bomben sichtbar.
In einigen Minuten wird der Pilot irgendwo über der Eifel seine Last abwerfen. 


Im Ernstfall könnte der Pilot der nuklearen Schockwelle nicht entkommen. Nach meiner Odyssee durch die Eifel ist mir nun klar, dass die Atombomben in Büchel lagern, auch wenn es von offizieller Seite dementiert wird. Wahrscheinlich wird keine Regierungspartei in diesem Land dafür sorgen, dass die Nuklearwaffen aus Deutschland verschwinden. Dabei könnte es so einfach sein: Die Bundesregierung müsste dem Weißen Haus in Washington, DC nur signalisieren, dass die Bomben abgezogen werden sollen. Denn es ist allein der Wille der Bundesregierung, dass die Waffen hier lagern – und nicht der Wille der amerikanischen Regierung. Sollte es durch einen Unfall oder islamistische Terroristen in unserem Land zu einer nuklearen Katastrophe kommen, existiert kein Notfallplan. Es ist Zeit zu handeln.

Anmerkung: Die Namen der Befragten wurden aus Personenschutzgründen verändert und abgekürzt.

© Daniel Gerritzen